"Ich habe mich innerlich von meiner Familie verabschiedet."

24. Februar 2022

 

 

junger Mann vor Blumentapete
© Zoe Opratko

 

Händchen halten, sein Date in der Öffentlichkeit küssen oder den Eltern von der ersten Liebe erzählen. Was für viele normal ist, bereitet jungen, queeren Menschen nach wie vor Kummer und Sorgen. Ebru, Jakub, Narin und Emir erzählen von ihrem Coming-Out und dem Mut, zu sich selbst zu stehen.

 

Von Milica Joskić, Fotos: Zoe Opratko

 

 

Man wird als Einwandererkind regelrecht dazu erzogen, seiner Familie sein Leben schuldig zu sein. Es soll so früh wie möglich ein ‚guter Mann‘ her und danach gleich Enkel gezeugt werden“, so Ebru, Lehramtsstudentin und Tochter türkisch-bulgarischer Eltern. Erwartungen wie diese sind in migrantischen Communitys gang und gäbe, auch ich kenne sie. Das Leben ist in den Köpfen der Eltern und Verwandten vorgeplant: bis spätestens Ende 30 einen anständigen Partner finden, den Eltern Enkelkinder schenken und eben ein normales Familienleben führen. Der Druck, seine Familie nicht zu enttäuschen, ist groß. Ebru hat sich ihrer Mutter mit 14 Jahren zunächst als bisexuell geoutet, damit sie ihr die Hoffnung auf einen Schwiegersohn nicht gänzlich nimmt. Sie selbst wusste jedoch von Anfang an, dass sie ausschließlich Frauen mag. Erst als sie mit ihrer festen Freundin nachhause kam, wurde es ernst. „Mein Vater redete auf meine Mutter ein und bewegte sie dazu, mich nieder zu machen. Sie wollten mir den Kontakt zu meiner Freundin verbieten.“

 

Farbe bekennen auf Social Media

Über ihren Alltag als queere Musikerin spricht Ebru als „schwesta_ebra“ auf ihren Social-Media-Kanälen offen. Am „Lesbian Visibility Day“ schreibt sie unter einem Insta-Post: „Ich bin lesbisch und habe einen Migrationshintergrund. Meine Familie kommt aus einem Land, in dem es die gleichgeschlechtliche Ehe nicht gibt. Es wird als Krankheit angesehen.“ Mit ihrer Stimme wirkt Ebru der fehlenden Repräsentation queerer Migranten auf Social Media entgegen. „Ich möchte Menschen erreichen, die mit ähnlichen Situationen zu kämpfen haben wie ich früher. Sie sollen sehen, dass man Migrationshintergrund haben und lesbisch sein kann, ohne von der Familie verstoßen zu werden.“ Als Ebru und ihre Familie den Kontakt zu ihrem Vater abbrechen, hören auch die Anfeindungen auf. „Ich weiß, dass meine Mutter und mein Bruder heute zu mir stehen“, heißt es weiter im Post.

 

Auch Yavuz Kurtulmus, queerer Aktivist und Gründer des Transition Film Festivals, pocht auf die Wichtigkeit der Vorbilder im Alltag: „Es wird mittlerweile zwar mehr über queere Migras gesprochen, doch sie kommen selten selbst zu Wort. Wir müssen Gesicht zeigen, im Alltag auftauchen. Wie Lieben wir? Wie streiten wir? Wir müssen unsere Geschichten selbst erzählen, die traurigen, aber auch die schönen“, betont Kurtulmus. Der ehemalige Versicherungskaufmann gründete 2009 einen Verein namens MiGay, der auf die Bedürfnisse migrantischer Queers spezialisiert war.

 

 

Hände halten
,,Sie wollten mir den Kontakt mit meiner Freundin verbieten.'' © Zoe Opratko

 

Flucht aus der LGBTQ- Hölle

 

„Wir reden zu wenig über die Probleme und Sorgen, mit denen sich die queere Migra-Community herumschlägt“, findet Jakub. Der 20-Jährige ist vor zwei Jahren von Polen nach Wien gezogen und hatte in seiner Jugend niemanden, mit dem er sich identifizieren hätte können. „Mir wurde eingeredet, dass ich in die Hölle komme, dass ich krank bin. Ich habe mir dafür die Schuld gegeben und war sauer auf mich selbst“, erinnert er sich zurück. „Ab dem Tag, an dem mir klar geworden war, dass ich schwul war, verstellte ich mich täglich. Sobald ich mein Zimmer verließ, setzte ich eine Maske auf, und mit jedem Tag, an dem ich nicht ich selbst sein konnte, bröckelte sie.“ Seine mentale Gesundheit verschlechterte sich. Während dieser Zeit kam er sogar mit einem Mädchen zusammen. „Ich wollte dadurch versuchen, wieder ‚normal‘ zu werden“, erzählt er. Aber bald zog er nicht nur in der Beziehung den Schlussstrich. „Ich habe lange damit gekämpft, ich selbst sein zu können, ich hatte eine Freundin, meine Mutter schickte mich zu so genannten Konversionstherapien mit Exorzisten und allem. Ich wollte mir mehrmals das Leben nehmen. Hätte ich so weiter gemacht, würden wir dieses Gespräch jetzt nicht führen.“

 

Jakub kehrte nach dieser Erkenntnis Polen den Rücken und zog zu seinem Vater nach Österreich. Zuflucht gefunden hat er in Facebook-Gruppen von Stars wie Nicki Minaj oder Lana Del Rey. Dort hat er zum ersten Mal mit Leuten gechattet, denen es ähnlich ging wie ihm: „Durch den Kontakt mit den ganzen queeren Teenagern wusste ich: Ich bin gut, so wie ich bin, es ist sogar fucking geil!“, gibt er lachend zu. „Gleichgesinnte sind unglaublich wichtig“, bestätigt auch Yavuz Kurtulsmus. Durch die Arbeit in seiner ehemaligen Initiative „Migay“ half er zusammen mit seinem Team, jungen und queeren Wienern einen ‚Safe Space‘ zu finden. „Wenn wir irgendwann Leute finden, die uns ähnlich sind, gibt es uns Kraft. Wir wissen dann endlich, dass wir nicht alleine, keine Krankheit sind.“

Polen erklärte Anfang 2020 ein Drittel des Landes zur „LGBT-freien Zone“. Das Bundesland, in dem Jakub bis vor zwei Jahren gelebt hat, gehört in solch eine Zone. „Wenn ich mit autochthonen Österreicher:innen spreche, sind die jedes Mal schockiert davon, wenn ich ihnen Storys über den Umgang mit Queers in Polen erzähle. Seiner Meinung nach fehlt es bei Queers ohne Migrationshintergrund an Verständnis: „Die verstehen nicht, dass wir einfach nicht dieselben Probleme haben. Ich hatte keinen Support, es war Glück, dass ich es da raus geschafft habe“, so der 20-Jährige.

 

Momentan schreibt Jakub sein erstes Buch und erzählt darin seine Geschichte und möchte vor allem anderen jungen Queers damit helfen: „Ich schreibe es für die neue Generation derer, die damit kämpfen, sich zu akzeptieren. Für die Eltern, die überfordert sind und ihr Kind verstehen wollen. Und natürlich für die cis-Männer, die unsere Realität kennen sollten“, ergänzt er.

 

Ebru mit geneigtem Kopf
Ebru: "Ich komme aus einem Land, in dem Homosexualität als Krankheit angesehen wird" © Zoe Opratko

 

Sine, wann heiratest du endlich?

„Was, wenn mich ein Bekannter meiner Eltern dabei sieht, wie ich einen Mann küsse? Diese ständige Verfolgungsangst hat mich wahnsinnig gemacht und hatte dazu geführt, dass ich mich immer mehr von meiner Familie distanziert habe. Diese Spannung in der Brust habe ich nicht ausgehalten. Ich wollte Freiheit“, erzählt Emir Dizdarević. Ursprünglich kommt der 32-Jährige aus Bosnien, seine Familie ist Anfang der Neunzigerjahre vor dem Jugoslawienkrieg nach Österreich geflüchtet, wo Emir aufgewachsen ist. Heute ist er Vorsitzender der Kulturkommission Josefstadt, politisch bei den Grünen Andersrum aktiv – und lebt offen homosexuell. Doch das war nicht immer so: Bei seinem Outing vor 10 Jahren ging er vom Schlimmsten aus. „Ich hatte Homophobie jahrelang miterlebt. Ich habe mich aus Liebe heraus geoutet, um die Beziehung zu meinen Eltern zu retten, und musste gleichzeitig mit absolutem Liebesverlust rechnen.“ Nach einem Moment der Stille gibt er zu: „Ich hatte mich innerlich von meiner Familie verabschiedet.“

 

Dass er auf Männer steht, merkte Emir bereits als Kind. „Ich war neidisch, wenn der Nachbarsjunge lieber mit meiner Schwester spielte als mit mir“, gibt er lachend zu. Sobald er in Worten fassen konnte, was das zu bedeuten hatte, ging der innere Kampf los. Wie viele andere kennt auch er den Druck, immer ein bisschen besser sein zu müssen als seine österreichischen Klassenkolleg:innen. „Neben dem Druck, sich anpassen zu müssen und in der Schule abzuliefern, musste ich dann auch noch damit ringen, meine Gefühle zu akzeptieren. Ich beneidete andere 16-Jährige, die ihre ersten Dates hatten und sich ausprobierten. Ich hingegen war damit beschäftigt, ein ‚guter Österreicher‘ zu sein“, gibt der Austrobosnier zu.

Emir: „Ich hatte Homophobie jahrelang miterlebt. Ich habe mich aus Liebe heraus geoutet, um die Beziehung zu meinen Eltern zu retten, und musste gleichzeitig mit absolutem Liebesverlust rechnen.“
Emir: „Ich hatte Homophobie jahrelang miterlebt. Ich habe mich aus Liebe heraus geoutet, um die Beziehung zu meinen Eltern zu retten, und musste gleichzeitig mit absolutem Liebesverlust rechnen.“

 

„Die Gesellschaft diktiert Migranten ständig vor, wie sie zu sein haben. Dieser Druck, sich als ‚anständiger Ausländer‘ zu beweisen, den eigenen Namen ständig erklären zu müssen oder der Drang ‚überhöflich‘ zu sein, begleitet uns unser Leben lang“, kommentiert Yavuz Kurtulmus. „Zu dieser Belastung kommt dann noch, dass man im Alltag ständig daran erinnert wird, sich irgendwann outen zu müssen.“ Das merkte auch Emir früh: Als er das heiratsfähige Alter erreicht, beginnt das typische Familienverhör à la: „Hast du eine Freundin? Wann willst du heiraten? Die Metzgerstochter ist single, willst du Mal mit ihr ausgehen?“ Irgendwann hatte es Emir eindeutig satt – und outete sich seiner Familie. „Es gab ein Familienmitglied, welches aus Überforderung durch mein Outing ein Jahr nicht mit mir sprechen konnte. Das war damals echt hart. Ich wusste aber, dass ich der Erste in ihrem Leben war, der homosexuell war und so für sie ein Tabu gebrochen hatte. Mittlerweile ist alles wieder cool zwischen uns“, so Emir.

 

Die eigene Kultur ist migrantischen Familien sehr wichtig. „Es gibt eine enorme Angst davor, seinen kulturellen Halt zu verlieren“, erklärt Yavuz Kurtulmus und führt weiter aus: „Sich zu outen ist keine Einbahnstraße. Wir müssen unseren Familien auch Zeit geben, unsere Sexualität zu begreifen.“ Das weiß er aus eigener Erfahrung nur zu gut. Er ist in einer türkischen Gastarbeiterfamilie mit vielen Geschwistern aufgewachsen. Emirs Mutter machte schlussendlich nach einiger Zeit deutlich: „Wer ein Problem mit meinem schwulen Sohn hat, darf nicht mehr über meine Türschwelle!“

 

 

Narin: ,,Für meine kurdische Familie ist Homosexualität eine Sünde''
Narin: "Für meine kurdische Familie ist Homosexualität eine Sünde" © Zoe Opratko

 

 

Nicht mein Problem!

 

Die 20-jährige Narin studiert Lehramt, hat kurdische Wurzeln. „Zuerst habe ich mich meiner Schwester anvertraut, doch selbst da hatte ich lange mit mir gekämpft, bevor ich mich überwinden konnte. Es war eine Erleichterung zu wissen, dass sie zu mir steht. Und auch, dass sie es nicht gleich meinen Eltern weitergesagt hat“, meint Narin. Sie wusste ab ihrer Pubertät, dass sie auch Gefühle für Frauen hatte, schob diesen Gedanken aber sofort weg. „Da es für meine Familie sowieso Sünde ist und Homosexualität von ihnen nicht als etwas Normales angesehen wird, habe ich diese Erkenntnis nicht weiter beachtet. Es war keine Option.“ Vor der Pandemie ist Narin mit ihren Eltern einmal im Jahr nach Kurdistan gefahren, um ihre Familie zu besuchen. Ihren Verwandten hat sie ihre sexuelle Neigung auch nicht erzählt, im Gegenteil: „Wenn ich dort bin, achte ich sehr auf meine Wortwahl, meine Art mich zu kleiden und wie ich rüberkomme. Meiner Mutter zu Liebe nehme ich dann eine Rolle ein. Ich möchte nicht, dass sie wegen mir dumme Sprüche abbekommt.“

 

„Die Sorgen vor dem Outing sind bei Bio-Österreichern und Migranten im Grunde ähnlich. Nur sitzt uns oft unsere Kultur im Nacken“, erklärt Yavuz Kurtulmus. In vielen Haushalten hat zudem Religion einen hohen Stellenwert. „Als Moslem schwul zu sein, ist nicht immer leicht, dass weiß ich aus eigener Erfahrung. Viele haben Angst, sich nach dem Outing von Kultur und Tradition trennen zu müssen, doch das muss nicht sein. Du kannst queer sein und trotzdem deinen traditionellen Tee trinken“, lacht Kurtulmus.

 

Mittlerweile lässt sich auch Narin ihre Kultur nicht mehr nehmen und ist heute gut vernetzt: „Ich habe erst nach meinem Outing gemerkt, wie groß die kurdische LGBT-Community ist. Schon ein paar Leute zu kennen, die den gleichen Background und dieselben Sorgen haben, ist so viel Wert.“ Seitdem sie sich mit Menschen umgibt, die ihre Interessen und Ansichten teilen, ist die 20-Jährige selbstbewusster denn je. Sie hat sich vor zwei Jahren auch ihren Eltern geöffnet: „Deren Problem, wenn sie nicht akzeptieren, wen ich liebe.“

 

Emir, Ebru, Narin und Jakub haben ihren Weg gefunden und zeigen sich der Welt so, wie sie sind. Dass es mehr Sichtbarkeit und Repräsentation von Queers aus der migrantischen Community braucht, da sind sich alle einig. Schließlich profitieren alle davon, wenn Vielfalt und Diversität medial mehr Fläche bekommen. Sie alle kennen die Angst, den Frust, das Versteckspiel und die Maske, die man aus Selbstschutz aufsetzt. Sie wissen allerdings auch, wie befreiend es ist, endlich auszubrechen und sein wahres Ich zu zelebrieren. 

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