Warum die muslimische Community sich nicht vom Terror distanzieren muss.

05. November 2020

Der Täter hatte albanisch-nordmazedonischen Background und kam aus einer muslimischen Familie. Genau wie ich, genau wie mein Bruder, genau wie eines der Todesopfer. Ein Kommentar darüber, warum sich Einzelpersonen aus bestimmten Communities nicht jedes Mal distanzieren müssen.

von Šemsa Salioski 

„Ich möchte nicht mehr über den Lockdown morgen meckern. Im Vergleich zu anderen Ländern geht es uns in Österreich eigentlich eh extrem gut. Erstens wir leben in einem Sozialstaat und dann zählt Österreich auch noch zu den sichersten Ländern der Welt.“, sagt Amina, eine meiner besten Freundinnen am Montagabend zu mir. „Ja schon, stell dir vor wir würden in einem Kriegsgebiet wohnen und müssten zuhause bleiben um nicht erschossen und nicht einfach nur um nicht krank zu werden.“ antworte ich ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, was sich später in Wien abspielen wird. Unsere Smartphones liegen unberührt vor uns auf dem mit Süßigkeiten eingedeckten Esstisch. Seelenruhig knabbern wir an Milka-Keksen, während ihre zwei Kinder daneben mit unserer anderen Freundin Anastasia spielen und lauthals lachen. Es ist ein für November absurd warmer und ziemlich gemütlicher Abend in unserer Heimatstadt Wien.

Er hebt immer ab, wenn seine „kleine“ Schwester anruft.

Knapp eine halbe Stunde danach werden wir schlagartig aus dieser für uns seit unserer Geburt  bestehenden weichen Bubble der Sicherheit gerissen. Ich bekomme die ersten WhatsApp-Nachrichten von Freunden, die wissen möchten, ob es mir gut geht. „Bitte was, Terroranschlag in Wien? In WIEN? Wollt ihr mich verarschen?“, schreie ich panisch. Ich stehe auf, schnappe mein Handy und rufe zitternd meine Eltern an. Ich kann mich wirklich nicht erinnern wann ich meinen pochenden Herzschlag das letzte Mal so enorm laut in meinen Ohren hören konnte und denke daran, wie viele Personen diese unbeschreiblich grässliche Situation heute Nacht wohl ebenfalls erleiden müssen. Meine Eltern waren zum Glück zuhause. Mein älterer Bruder, der wie die meisten in meinem Umfeld oft in der Nähe vom Schwedenplatz abhängt, hebt nicht ab. Um genau zu sein, er hebt fünfundzwanzig Mal nicht ab. Man muss wissen: Er hebt immer ab, wenn seine „kleine“ Schwester anruft.

„Na toll, er sieht aus wie einer dieser klassischen IS-Attentäter.“

In der Zwischenzeit leuchten unsere drei Smartphones im Minutentakt auf und wir erhalten via WhatsApp mehr Informationen, darunter zahlreiche Fake-News die uns in den Wahnsinn treiben, sowie echte Videos der Gräueltaten und können noch immer nicht realisieren, dass sich diese Tragödie tatsächlich in unserem Wien ereignet. Plötzlich herrscht im Wohnzimmer Stille. Gebannt blicken wir nur noch auf unsere Bildschirme.  „Na toll, er sieht aus wie einer dieser klassischen IS-Attentäter.“, sagt Amina nach einer Weile. Sie selbst ist gläubige Muslima und trägt auch seit einigen Jahren ein Kopftuch. An ihrem Gesichtsausdruck lässt sich ganz klar eine Mischung aus Wut und Sorge ablesen. Dieser offenbar dschihadistische Anschlag wird nämlich garantiert für viele als Rechtfertigung für noch mehr antimuslimischen Rassismus als bisher genutzt werden.

Kurze Zeit später distanzieren sich auf sozialen Netzwerken schon die ersten Muslime, die in der Öffentlichkeit stehen, vom Terrorakt. Genau wie nach jedem Anschlag dieser Art und das obwohl die meisten Opfer, auf globaler Ebene betrachtet, vor allem selbst Muslime sind, aber das blenden Personen, die nicht über den europäischen Tellerrand schauen möchten, gerne aus. Das Grundproblem hierbei ist, dass die manchmal sogar unausgesprochene, aber dennoch klar spürbare Forderung nach öffentlicher Distanzierung indirekt nur mehr Nähe zum Terror schafft. Warum müssen Muslime wirklich jedes Mal öffentlich kundgeben, dass sie es, wie alle anderen normalen Menschen auf diesem Planeten, schrecklich finden, dass unschuldiges Blut vergossen wird? Allein in dieser Woche wurden nämlich mindestens fünfzehn muslimische Studenten beim IS-Terroranschlag auf die Universität von Kabul ermordet.

Zurück nach Wien: Auch muslimische Verwandte von mir haben das Gefühl, sich öffentlich von den Taten dieses kaltblütigen Verbrechers distanzieren zu müssen. Und apropos Verwandte: Während mein Bruder noch immer nicht an sein scheiß Handy geht, zersplittert mein Herz langsam in tausend kleine Scherben. Ich gehe ins Zimmer nebenan und halte meine Tränen mit aller Kraft zurück. Ich frage mich, ob er eh weiß, dass ich denke, dass er der beste große Bruder ist, den man sich nur wünschen kann. Ich versuche mich an unser letztes Gespräch zu erinnern, aber in meinem Kopf herrscht absolute Leere. Und dann hebt er ENDLICH ab. Meine Knie fallen auf die imaginären Splitter auf dem Boden und ich kann endlich weinen - vor Freude, denn er lebt und ist nicht verletzt. 

Selber Background

Trotzdem denke ich in dieser schlaflosen Nacht ständig daran, dass es auch hätte anders kommen können und es bei einigen in dieser Nacht leider auch anders gekommen ist. Am nächsten Morgen verbreitet sich dann auch auf der ganzen Welt unaufhaltsam die Nachricht, dass der Täter albanische Wurzeln hat und seine Familie aus Nordmazedonien stammt, genau wie meine Familie. Er ist in Wien geboren und aufgewachsen, genau wie mein Bruder. Worauf ich hinaus will? Derjenige VOR dem ich am Montag Angst hatte und derjenige UM den ich am Montag Angst hatte, haben zwar den gleichen kulturellen und religiösen Background, sind aber völlig verschiedene Personen. Beinahe unglaublich ist, dass zuerst nordmazedonische und albanische Medien und nun auch österreichische tatsächlich bestätigen, dass eines der Todesopfer, genau wie der Täter, albanische Wurzeln hat und ebenso aus Nordmazedonien stammt. Ich muss augenblicklich daran denken, dass auch die Familienmitglieder des Todesopfers an diesem Abend sicher zitternd darauf gewartet haben, dass jemand ans Telefon geht und dieser Gedanke bricht mir erneut das Herz.  

Muslime fürchten sich doppelt

Auf sozialen Netzwerken wird deutlich gemacht, dass die ziemlich patriotische albanische Community, die sich immer wieder für den besonders starken Zusammenhalt untereinander, sowie die gelebte interreligiöse Toleranz lobt, nicht fassen kann, dass Täter und Opfer die gleiche Migrationsbiografie haben und sogar im gleichen Alter waren. Die beiden hätten sich kennen können. Sie hätten Freunde sein können. 

Und, sollten sich jetzt auch zusätzlich Personen albanischer Herkunft dazu verpflichtet fühlen sich vom Terrorakt in Wien zu distanzieren, nur weil Einzelne auf die schiefe Bahn geraten? Nein, denn was Mörder, geblendet von Hass und Manipulation, anrichten, hat nichts mit anderen zu tun. Einzelne schwarze Schafe können nie eine ganze Gesellschaft repräsentieren. Trotzdem fühlen sich viele Muslime im Westen dazu gedrängt  sich von jedem dschihadistischen Anschlag  distanzieren zu müssen. Wie man hoffentlich aus diesem Text herauslesen kann, könnte leider jeder von uns einem Terroranschlag zum Opfer fallen, ganz egal was der kulturelle oder religiöse Background auch sein mag. Nur müssen sich Mitglieder der muslimischen Community dabei scheinbar jedes Mal automatisch doppelt so häufig fürchten. Einmal um ihr eigenes Leben und dann vor den zahlreichen Schuldzuschreibungen derjenigen, die sie für den Terror verantwortlich machen möchten.

Was wir in Zukunft tun könnten ist, uns dieses grauenhafte Gefühl der Schutz- und Hilflosigkeit in Erinnerung zu rufen und gegenseitig dafür zu sorgen, dass sich in unserer Stadt niemand aufgrund von Rassismus und Vorurteilen wieder genauso fühlen muss. Terroristen wollen Gesellschaften schwächen, indem sie sie spalten. Allerdings hatten wir alle Angst um unser Leben und das Leben unserer Liebsten. Wir trauern alle um die Opfer. Wir wissen alle nicht, was die Zukunft für uns bereithält. Deswegen müssen wir in Zeiten wie diesen näher zusammenrücken und uns gegenseitig vor „Oaschlöchern“ dieser Art schützen. 

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