Wie ich (fast nicht) Journalistin wurde

02. Juni 2022

Fast hätte Amra Durić ihren Traum, Journalistin zu werden, aufgegeben:  Trotz Geldsorgen, Gewissensbissen, Unverständnis vom Umfeld und fehlender Unterstützung hat sie es geschafft: Heute sitzt sie als migrantische Frau aus einer sozial schwachen Arbeiter:innenfamilie in einer Führungsposition bei einer großen österreichischen Tageszeitung.

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Autorin Amra Durić ©Zoe Opratko

Von Amra Durić, Fotos: Zoe Opratko

Die Zugfahrt von Wien nach Innsbruck dauert mit dem Railjet etwa 4 Stunden und 20 Minuten – wenn es keine Zwischenfälle gibt. Diese Strecke bin ich in den vergangenen Jahren unzählige Male abgefahren. Egal ob bei Schnee, Sturm, Regen oder Sonnenschein. Wie es der Zufall so will, schreibe ich diese Worte sogar im Zug von Innsbruck nach Wien. Diese 4 Stunden und 20 Minuten sollten mein Familienleben völlig aus der Bahn werfen.

Traumjob mit Hindernissen

Vor knapp 13 Jahren beschloss ich, nach Wien zu ziehen. Bis ich meinen Plan in die Tat umsetzen konnte, sollte aber noch Zeit vergehen. Bereits im Teenageralter wusste ich, dass ich Journalistin werden wollte. Meine Mama und ich saßen jeden Tag mit einer Tasse Cappuccino vor dem Fernseher und sahen uns „Gilmore Girls“ an. Wir fühlten uns den Charakteren verbunden. Ein starkes Mutter-Tochter-Duo, das viel redete, noch mehr Kaffee trank und zusammen viel durchgemacht hatte. Nur, es gab keine reichen Großeltern, die uns unterstützen konnten. Stattdessen hatte ich zwei Geschwister, die die Schule besuchten und eine alleinerziehende Mutter, die mit schweren gesundheitlichen Problemen kämpfte, weshalb sie ihrem Beruf nicht mehr nachgehen konnte.

In meinem Vorhaben, Journalistin zu werden, hatte mich meine Mutter immer unterstützt. Dass ich dafür studieren und in ein anderes Bundesland ziehen musste, da man in Tirol nicht Publizistik studieren konnte, war ihr nicht bewusst. In Österreich wird Bildung überdurchschnittlich vererbt. Ob die Eltern studieren, oder einen Hauptschulabschluss haben und wie viel Geld der Familie zur Verfügung steht, entscheidet darüber, welche Rolle ein Kind am Bildungsmarkt einnimmt. Laut einer OECD-Studie erreicht nur jedes fünfte Kind in Österreich einen höheren Bildungsabschluss als seine Eltern.

Studieren muss man sich erst verdienen

Nach meiner Matura entwickelte sich mein Sommerpraktikum zur Festanstellung – zum Glück. Ging es nach meinem Plan, musste ich etwa ein Jahr lang arbeiten, um mir überhaupt den Umzug nach Wien leisten zu können. Ich hatte seit meinem 16. Lebensjahr zwar schon Geld verdient, der Großteil floss aber in die familiäre Haushaltskasse. Jeder Cent zählte. Ich war in meiner Familie die Erste, die studieren gehen sollte. Doch im Unterschied zu meinen Freundinnen und Freunden, deren Eltern selbst eine Universität besucht hatten und für die es daher selbstverständlich war, dass auch das Kind studieren ging, war bei mir wenig Rückhalt da. Verwandte und Bekannte meiner Familie zeigten sich entsetzt darüber, dass ich nach Wien ziehen wollte, um Publizistik zu studieren. „Jetzt, wo du sie durch die Schule gebracht hast, zieht sie einfach weg und lässt dich allein. Sie zieht sicher nur nach Wien, um Party zu machen“, waren noch die netteren Sätze, die sich meine Mutter anhören musste. Viele konnten mit meinem Studium nichts anfangen. Die meisten Cousins und Cousinen hatten keine höhere Schule abgeschlossen, sondern waren nach der Hauptschule direkt in die Lehre gegangen. „Jetzt, wo du endlich arbeiten gehen solltest, willst du deinen Kopf in noch mehr Bücher stecken“, wetterten Verwandte.

Die laute Kritik konnte mich von meinem Wunsch nicht abbringen. Bei meiner Mama sah ich aber die ersten Zweifel aufkommen. Kurz vor meinem Umzug bekam ich ein Jobangebot in Tirol. Vollzeit, gut bezahlt, im Marketingbereich. Meine Mutter fragte mich, ob ich annehmen wolle. Zumindest eine Zeit lang. „Du kannst in ein paar Jahren noch immer studieren“, meinte sie. Der Job hätte auch unsere finanzielle Situation immens verbessert. Ich hatte schon ein Jahr lang gewartet und Angst, dass, wenn ich blieb, mehrere daraus werden würden. Mein Gefühl sagte mir: jetzt oder nie. „Ich kann bleiben und den Job annehmen. Ich fürchte aber, dass ich es mein Leben lang bereuen werde und dir dafür die Schuld gebe“, erklärte ich meiner Mama. Wir sprachen lange darüber. Ich bekam Studienbeihilfe, wusste aber, dass ich in Wien sofort eine Stelle finden musste, um mich selbst finanzieren zu können und auch, um meine Familie weiterhin, so gut es möglich war, zu unterstützen.

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"Meine Mutter brachte es nicht über das Herz, mich zum Zug zu bringen."

Vom WG-Zimmer ins Spital

Im September 2011 war es endlich so weit. Ich hatte ein WG-Zimmer gefunden und stand kurz vor der Übersiedlung. Meine Mutter war fertig mit den Nerven. Ihre Augen waren von ihren Tränen verquollen. Sie brachte es nicht über das Herz, mich zum Zug zu bringen. In den ersten Wochen fuhr ich jedes Wochenende wieder nach Tirol. Doch obwohl mich meine Mutter am Wochenende sah und wir täglich telefonierten, ging es ihr immer schlechter. Die ständige Kritik der Verwandtschaft, die abschätzigen Bemerkungen und die Sorge, dass ich allein in einer fremden Stadt war, verschlimmerten die Situation. Sie erlitt einen Zusammenbruch und landete im Spital. Zwei Tage lang lag sie im Krankenhaus. Ich saß mit meinen Geschwistern, die ebenfalls unter der Situation litten, zu Hause in Tirol. Mein einziger Gedanke war: Das ist es nicht wert. Ich beschloss, das Studium abzubrechen und den Traum vom Journalismus platzen zu lassen. Dass ich doch weiterstudieren konnte, war nur mit viel Kraft und Geduld möglich. Meine Mama konzentrierte sich mehr auf meine Geschwister und fing an, sich tagsüber um den kleinen Sohn einer Bekannten zu kümmern. Ich fuhr weiterhin fast jedes Wochenende nach Tirol. Noch heute, elf Jahre später, telefoniere ich täglich mit meiner Mama. Wir distanzierten uns von Menschen, die meinen Umzug als Im-Stich-Lassen der Familie betrachteten. Ich fand in Wien recht schnell einen Job und arbeitete während meiner Studienzeit unter anderem bei einer Versicherung, als Museumsaufsicht, verteilte Flyer und ging Babysitten. Nebenher machte ich Praktika bei Zeitungen und schrieb als freie Journalistin.

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Autorin Amra Durić ©Zoe Opratko

Für Menschen mit Migrationshintergrund ist der Weg zu höherer Bildung meist besonders schwierig. Migrant:innen brechen häufiger ihr Studium ab, machen geringere akademische Abschlüsse. Bei mir erschwerten die ökonomische Situation meiner Familie und das negative Umfeld den Einstieg ins Studienleben zusätzlich. Doch auch die schweren Herausforderungen und vielen Rückschläge schafften es nicht, mich von meinem Weg abzubringen. Ich absolvierte mein Studium erfolgreich. Seit über acht Jahren arbeite ich als Journalistin bei Heute, einer der größten österreichischen Tageszeitungen und bin mittlerweile sogar Teil der Chefredaktion.

Rund drei Monate nach meiner Übersiedlung stieg meine Mama schließlich selbst in einen Zug und fuhr das erste Mal nach Wien, um mich zu besuchen. Es sollten noch viele weitere Zugfahren folgen.

 

Amra Durić ist 31 Jahre alt und Mitglied der Chefredaktion von Heute.at, sowie Digital Project Managerin.

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