Wie ich meine eigene Heldin wurde

14. April 2021

Während der Uni-Zeit in einer WG mit der besten Freundin wohnen. Anziehen, was man möchte. Rausgehen, mit wem man will. Was für die meisten Frauen Anfang Zwanzig selbstverständlich ist, musste sich unsere tschetschenischstämmige Autorin, die anonym bleiben möchte, erst hart erkämpfen.

Foto: Zoe Opratko

Wie ich meine eigene Heldin wurde
Foto: Zoe Opratko

Als kleines Mädchen war es für mich selbstverständlich, dieselben Freiheiten wie meine jüngeren Brüder zu genießen. Als wir älter wurden, bemerkte ich, dass wir an einen Scheidepunkt kamen. Ich wurde getadelt, weil ich kein Interesse an Kochen oder Hausarbeit hatte. Dieselbe Diskussion kam bei meinen Brüdern gar nicht erst zustande. Typisch für eine tschetschenische Familie. Meine Eltern waren soweit fair, dass sie sie zumindest beauftragten, ihre eigenen Zimmer in Ordnung zu halten. Allgemeine Hausarbeit kam für sie aber gar nicht infrage. Geschirr spülen, Staubsaugen, Saubermachen – das waren alles im Vorhinein uns Mädchen zugeschriebene Aufgaben. Das ging so weit, dass meine Mutter mich einmal zu Ramadan mitten in der Nacht weckte, um ihr beim Kochen zu helfen. Obwohl ich am nächsten Tag Schule hatte. Damals traute ich mich nicht das zu hinterfragen – ich war sehr schüchtern gegenüber meinen Eltern, insbesondere meinem sehr strengen Vater. Wie das eben in der patriarchalen tschetschenischen Community so ist. Ich tat das, was von mir erwartet wurde. Und das war so einiges. Außer der Sache mit der Hausarbeit kamen für mich noch gefühlt hundert andere Regeln dazu. Heute bin ich 21 Jahre alt und blicke darauf zurück:

Auf Kriegsfuß mit einem Stück Stoff

Ab meinem 11. Geburtstag ging es dann rasant voran - ich durfte keine Hosen mehr tragen, ich traute mich nicht mehr, mit meinen männlichen Spielkameraden aus der Schulzeit zu spielen und ich musste mir immer öfter Ausreden einfallen lassen, wenn ich zu meinen Freundinnen wollte. Mit 13 zwang mich mein Vater schließlich dazu, das Kopftuch aufzusetzen. Natürlich traute ich mich nicht, etwas dagegen zu sagen, aber in dieser Zeit veränderte sich etwas in mir. Mir wurde bewusst, dass ich ein eigenständiger Mensch war und dass niemand ohne meine Zustimmung so tief in meine Persönlichkeit eingreifen durfte - nicht einmal meine Eltern. Ein Gedanke, der für viele Kinder in ausländischen Familien schwer zu fassen ist, da hier meist das Zusammenhaltsgefühl viel tiefer empfunden wird.

Ich war zwar gläubig und praktizierend, aber ironischerweise wurde das Kopftuch für mich zu einer Art Feindbild. Ich weinte, ich sträubte mich, ich hasste es, ich schrie innerlich – ich stand auf dem Kriegsfuß mit einem Stück Stoff. In den nächsten Jahren begann ein Krieg für mich, primär gegen das Kopftuch gerichtet, in Wahrheit jedoch gegen alles, wofür es in meinen Augen damals stand: die patriarchalen Strukturen unserer Community und die systematische Benachteiligung unserer Frauen. In meinem Kopf war die Angst vor meinem Vater, vor unserer Community und der Respekt vor unseren Richtlinien tief verankert. Ich konnte mir nicht vorstellen, was passieren würde, wenn ich mal NICHT tat, was von mir verlangt wurde und mich offen dagegen wehren würde. Irgendwann aber wagte ich den Sprung ins kalte Wasser und stellte mich gegen die Regeln meiner Eltern. Zuerst nur bei Kleinigkeiten, dann schon bei größeren Dingen, die mich betrafen und mit denen ich nicht einverstanden war.

„Dad, ich ziehe jetzt aus“

Mein Vater reagierte wütend, entsetzt und aggressiv, aber das war auch schon das Schlimmste. Mir wurde plötzlich klar, dass diese Angst, die ich zuvor empfunden hatte, nur in meinem Kopf existiert hatte und dass ICH diejenige war, die sich selbst diese Grenzen gesetzt hatte und nicht die anderen. Von dem Moment an als ich erkannte, dass jede Veränderung in meinen eigenen Händen lag und ich diese Schranke in meinem Kopf überwunden hatte, wurde alles möglich für mich. Mittlerweile trage ich seit Jahren kein Kopftuch mehr, verfolge Hobbys, die mich interessieren, gehe aus, mit wem ich möchte, und bald ziehe ich sogar mit meiner besten Freundin in eine WG. Das hätte ich mir vor fünf Jahren nie erträumen können. Es hat mich sehr viel Überwindung und Herzrasen gekostet, mich vor meinen Vater zu stellen und ihm zu sagen „Dad, ich ziehe jetzt aus.“ Es hat gedauert, aber ich konnte meine Eltern überzeugen. Zuerst meine Mutter, und dann meinen Vater. Mit Argumenten, dass ich es dann näher zur Uni hätte und mehr Ruhe zum Lernen. Und vielen Gesprächen. Ich kam irgendwann durch. Mein jüngerer Bruder ist der Einzige, der sich noch dagegen sträubt, dass ich ausziehe. Weil er dann keine Kontrolle mehr hat. Aber ich brauche niemanden, der mich kontrolliert. Meine Eltern wissen, dass ich gescheit und reif bin und keinen Blödsinn machen werde. Sie wissen, dass sie mir vertrauen können. Und ich weiß auch, dass ich ihnen vertrauen kann.

Traditionen sind nur Regeln toter Menschen

Ich weiß, wie schwer es ist, ehrlich und offen gegenüber seinen tschetschenischen Eltern zu sein, glaubt mir. Bei all den Tabus und Verboten. Meine Eltern waren nicht immer perfekt – ich bestimmt auch nicht - und es war auch schwer für sie, zu akzeptieren, dass ich nicht ihren Normen entspreche. Aber letzten Endes haben sie es getan und sie lieben mich mittlerweile für meine Starrköpfgkeit und Entschlossenheit. Ich hatte mir als junges Mädchen immer einen Helden gewünscht, jemand der in mein Leben kommen würde und schnipsen würde und dafür sorgen, dass sich all meine Probleme wie von Zauberhand auflösen würden. Heute kann ich sagen, dass ich meine eigene Heldin geworden bin. Allen anderen, denen es so geht wie mir, kann ich nur raten: Traut euch. Redet mit euren Eltern. Vertraut ihnen, dann werden sie euch auch vertrauen. Es ist okay, wenn man nicht mit allen Traditionen der Community einverstanden ist. Das bedeutet nicht gleich, dass man seine Identität aufgibt. Aber manche Traditionen sind im Grunde einfach nur Regeln von toten Menschen. Und die können und werden nicht unser Leben bestimmen. Und vor allem: Am Ende des Tages weiß ich, dass meine Eltern mich mehr lieben, als ihre Kultur.

 

Zur Autorin: Die Autorin, die anonym bleiben möchte, ist 21 Jahre alt und in Tschetschenien geboren. Sie wird ab nächstem Jahr studieren – ein großer Schritt Richtung Selbstbestimmung, die sie sich in ihrem Umfeld erkämpfen musste und nun jüngere Frauen ermutigen will, es ihr gleich zu tun.
 
Dieser Artikel ist im Zuge des Projekts „Du bestimmst.Punkt.“ entstanden. Das Projekt fndet im Rahmen des Aufrufs „Maßnahmen gegen Gewalt und zur Stärkung von Frauen und Mädchen im Kontext von Integration“ statt. Dieses Projekt wird durch den Österreichischen Integrationsfonds fnanziert. Die redaktionelle Verantwortung liegt allein bei biber.
 

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