Burn-Out mit 16
"Geh weg“, sagt sie, „Bitte.“ Sie wagt es nicht, aufzuschauen, will nicht das besorgte Gesicht ihres Vaters sehen, will überhaupt niemanden sehen. Kaum schließt er die Tür ihres Zimmers, versiegen die Tränen. „Alle schienen zu funktionieren, meine Eltern, meine Freunde, die ganze Welt – nur ich schaffte es nicht.“ Sie schließt sich ein, über Wochen. „Ich fühlte mich wie eine Versagerin, der man ihr Nichtstun vorhält,“ erzählt Daniela über ihren dunklen Winter 2020.
Dabei tut Daniela* nicht nichts – ganz im Gegenteil. Die ehrgeizige Schülerin sitzt nach der Schule meist bis Mitternacht an ihren Hausübungen. Am Wochenende arbeitet sie als Kellnerin. Einfach Abhängen? Dazu hat sie keine Zeit. Ihr Leben besteht aus Schule, Hausübungen, Arbeit und schlafen. Im Dezember 2019 erleidet die 18-Jährige dann ein schweres Burn-out. Sobald sie jemanden sieht, ob Lehrpersonen, ihre Eltern, ja sogar Passanten auf der Straße, gerät sie in Panik und weint unkontrolliert. „Ich habe die Wochen davor krampfhaft versucht, mich zusammenzureißen und zu lächeln. Dabei habe ich mir eigentlich überlegt, wie ich diesen Stift, diese Gabel, dieses Kabel benützen könnte, um mich umzubringen. Wie hoch müsste dieses Gebäude sein? Überlebe ich einen Sturz aus dem 6. Stock? Irgendwann konnte ich das nicht mehr überspielen.“ Schon zwei Jahre zuvor hat die AHS-Schülerin ein Burn-out erlebt, jedoch harmloser. „Ich war sechzehn, als mich das erste Mal Selbstmordgedanken aufsuchten. Aber damals habe ich mir gedacht, Daniela, du denkst Blödsinn. Im Winter 19/20 wurde Selbstmord dann mein ständiger Plan B.“ Ihr Zustand verbessert sich zunächst, als sie anfängt, weniger zu unternehmen. Sie trifft sich nicht mehr mit Freundinnen, geht nicht feiern, hört auf, neben der Schule zu arbeiten und auch ihren Boxsport gibt sie auf. Alles, um mehr Zeit für sich zu haben. Aber sie bleibt eine ehrgeizige Schülerin. „Ein Dreier hätte mich gestört, weil ich weiß, dass ich das besser kann. Dieses Gefühl, ständig gute Leistung erbringen zu müssen, hat sich in meinem Tun gespiegelt: Zuerst kam die Arbeit, dann die Pause.“ Aber was, wenn auf die Arbeit Arbeit folgt? Und es ein Leben ohne Pause wird?
Vielen Jugendlichen in Österreich geht es wie Daniela. Sie erleben einen Druck, der krank macht. Ob durch die Schule, durch leistungsorientierte Eltern oder durch Social Media – oder alles zusammen. Nie gut, schön, cool genug zu sein und immer etwas korrigieren zu müssen, das erfahren die meisten schon vor der Pubertät. Ihr Terminkalender ist voll, das Handy leuchtet nonstop, die Schule zu meistern ist ein 40-Stunden-Job. Dass die Erschöpfungskrankheit „Burn-out“ daher schon längst in den Klassenzimmern unserer Gesellschaft Fuß gefasst hat, wundert nicht. Und nun auch noch Corona. Auch wenn die Medien voll sind mit Berichten von überforderten und überlasteten Eltern, oft ergeht es ihren Kindern nicht anders. In den Zoom-Redaktionssitzungen für diese biber-Newcomer-Ausgabe tauschen sich 12- bis 18-jährige Mädchen und Buben nicht nur über die Herausforderungen von E-Schooling aus, sondern über ihre To-Do-Listen daheim: darüber, wie sie jüngeren Geschwistern bei den Schulübungen helfen, wie sie im Haushalt eingespannt sind und wie ihre Eltern ihnen jede Pause als „Nichtstun“ vorhalten. Es wundert nicht, dass solch „Manager“-Workload gepaart mit hohem Selbstanspruch für die Generation „Selfie“ sehr ungesund werden kann. Dazu belasten Schönheitsideale und Fitnessansprüche.
DRUCK VON AUSSEN UND INNEN
„Eine neue Nase als Wunsch zur bestandenen Matura – ist alles schon vorgekommen! Der Trend unserer Gesellschaft ist die Korrektur.“ Romana Wiesinger ist Psychotherapeutin und behandelt seit Jahren Jugendliche in ihren Praxen in Wien und Niederösterreich. Ihre Klienten sind meist zwischen 14 und 27 Jahre alt, wenn sie mit Symptomen von Burn-out zu ihr kommen. „Aber sie werden jünger! Der Druck unserer Gesellschaft ist bereits in der Volksschule angekommen.“ Und Druck ist es, der Kindern und Jugendlichen immer mehr und immer früher zu schaffen macht. Burn-out gibt es in der Therapie zwar nicht als Diagnose, aber dass die Symptome der Betroffenen wie Angststörungen, Sucht, Essstörungen und Selbstmordgedanken auch durch zu viel Belastung ausgelöst werden, beobachtet Wiesinger. „Burn-out heißt, ausgebrannt zu sein – durch zu viel Druck von außen und innen. Das System kippt, wenn die permanente Überbelastung dazu führt, dass sich Kinder und Jugendliche nie genug fühlen.“ Sie fühlen sich nicht hip genug auf Social Media und nicht klug genug in der Schule. Wiesinger bemerkt dieses Gefühl schon bei Volksschulkindern. Wenn den Eltern ein Dreier nicht genug ist, wenn es unbedingt das Gymnasium sein muss, wenn schon Neunjährige das Gefühl bekommen, zu versagen und mit Nachhilfe eingequetscht werden. „Warum ist der Tischler weniger wert als der Anwalt?“, fragt die Therapeutin. Sie erlebt, dass die Schule, aber auch die Eltern eine große Rolle dabei spielen – nach dem Motto: „Keine Matura – was ist man dann?“. In ihrer Therapie arbeitet sie daher vor allem am Selbstwert der Jugendlichen und dass sie wieder lernen, Ruhephasen in ihr Leben zu integrieren. Gerade wenn es um Sucht geht, alles dient letztlich dazu, eine innere Leere zu füllen. Genau darum geht es Daniela, als sie im Jänner 2020 das erste Mal in Therapie geht. Eine Psychologin diagnostiziert ihr eine wiederkehrende, depressive Störung. Zur Therapie hat die Mutter sie überredet, die sich um ihre dauer-blasse und dünnerwerdende Tochter sorgt. Auf Empfehlung besorgt sie ihr Johanniskraut. „Nach zwei Wochen haben die Therapie und Kapseln angefangen zu wirken. Zwar kam es zu Rückfällen, aber diese Leere, die von innen heraus auffrisst, ist immer kleiner geworden. Ich habe die anderen nicht mehr nur dabei beobachtet, wie sie lachen, Small-Talk führen oder Zukunftspläne schmieden, ich habe auch selber wieder mitgeredet und mitgelacht.“
FALSCHE SCHULE MACHT KRANK
Schulischer Druck spiele sicher eine große Rolle, bestätigt die Psychotherapeutin Wiesinger, aber auch ein instabiles Zuhause belaste ihre jungen Klienten zunehmend. „Der Trend der Patchworkfamilie und die Tatsache, dass Kinder und Jugendliche dadurch oft zwei „Zuhause“, zwei Familien und Elternpaare haben, birgt nicht nur zusätzlichen Stress, sondern verunsichert. Sie verlieren die Sicherheit und, was Beziehungen betrifft, die Vorbilder.“ Dadurch falle es Jugendlichen auch immer schwerer, sich auf Beziehungen einzulassen. Positiv beobachtet die Therapeutin allerdings, dass Psychotherapie viel weniger als früher ein Tabu ist für Jugendliche. Einige 14- bis 17-Jährige melden sich sogar ganz von selbst bei ihr. „Auch Lehrer und Schulärzte sind durchaus aufgeschlossen für psychische Erkrankungen, aber leider ist das ganze System Schule völlig überlastet. Vor allem die Lehrer!“, so Wiesinger. Daher sind es dann doch meistens die Mütter, die anrufen. Weil sie Anzeichen bemerken, etwa weil bei der Tochter plötzlich die schulischen Leistungen abfallen oder weil der Sohn sich jedes Wochenende ins Koma säuft. Denn Burschen sind genauso betroffen, auch wenn in diesem Artikel nur Mädchen zu Wort kommen. Rund 35 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Österreich haben laut einer Studie der Universität Wien und des Ludwig Boltzmann Instituts eine hohe Wahrscheinlichkeit, zumindest einmal im Leben psychisch zu erkranken. Wenn Eltern jedoch nicht reagieren und vor allem nicht aufgeschlossen für Therapie sind, ist das schlecht für die betroffenen Kinder und Jugendlichen. Gerade in bildungsfernen Haushalten sei das der Fall, so Wiesinger. Aber auch kulturelle Gründe können eine Rolle spielen, wie die biber-Geschichte „Schrei nach Therapie“ thematisiert. In vielen Familien mit Migrationshintergrund sind psychische Erkrankung ein großes Tabu. Oder wenn einfach das Geld dafür fehlt.
Amra*, mittlerweile eine 21-jährige Studentin, kennt dieses Problem: Therapeutische Hilfe kostet. Mit 16 Jahren hat sie sich die meisten Stunden zur Behandlung ihrer Angststörung selber gezahlt. Herzrasen und Schwindel im Angesicht von beängstigenden Nachrichten oder Lerninhalten über Krieg: Ihre Eltern sind der Meinung, dass sie übertreibt und dass Amra ihre Angstanfälle, die sie damals täglich plagen, selbstständig überwinden soll. Die finanzielle Unterstützung fehlt und ihr eigenes Geld reicht selten für zweimal im Monat. „Therapiestunden sollten zugänglicher und leistbarer werden, vor allem für Jugendliche“, fordert sie deshalb. „Außerdem sollten Schüler bereits im Unterricht lernen, dass ihr psychisches Wohlbefinden wichtig ist und wie sie mit Stresssituationen umgehen können.“ Ohne Behandlung, betont auch Therapeutin Wiesinger, können Ängste sich ausweiten. „Deshalb ist es so wichtig, die Kassenplätze aufzustocken – sowohl die psychotherapeutischen als auch die psychiatrischen.“ Denn die Tarife vieler privat behandelnder Psychiater sind kaum leistbar: Zwischen 140 und 200€ kostet ein Erstgespräch von einer Stunde, danach etwas weniger, weil nur mehr 30 Minuten lang behandelt wird. Psychotherapiestunden kosten um die 100 €, wovon man als Krankenkassenzuschuss 28 € jeder Therapieeinheit zurückerstattet bekommt. Eine wirkungsvolle, regelmäßige Therapie geht meist über den Zeitraum eines Jahres.
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