Das Patriarchat ist eine kulturelle Gemeinsamkeit.

14. Dezember 2021

Mein:e liebe:r Leser:in, ich habe dir in den vorigen Kolumnen viel über kulturelle Unterschiede zwischen Syrien und Österreich erzählt. Lass mich dir nun mal etwas von kulturellen Gemeinsamkeiten berichten, denn sie sind auch gang und gäbe. Beispielsweise das Patriarchat, Femizide, Gewalt an Frauen und Benachteiligung sowie Herabwürdigung von Frauen. 

von Jad Turjman

Einen Mann als Frau oder "Mädchen" zu bezeichnen, ist eine grobe Beleidigung

Dass ich diese Beispiele wähle, liegt an Aussagen einiger grimmig aussehender Politiker:innen aus der Partei der “Weißen Männer mit schwarzem Anzug”, die leider beim Massenrücktritt nicht demissionierten: “In Österreich gibt es keine patriarchalischen Strukturen, alles ist importiert!”, oder „Ich bin keine Feministin!“, war da zu hören. Lass uns am Anfang ein bisschen über die Theorie von patriarchalischen Strukturen reden. Um es in meiner Begrifflichkeit zu verorten: Das Patriarchat ist eine Machtstruktur im Staat, in der Gesellschaft und in der Familie, in der die Herrschaft des Mannes alles bestimmt und Frauen benachteiligt und unterdrückt. Eine Struktur, in der die Männer ihre Emotionen, ihre Scham und ihren Schmerz nicht offen zeigen können und diese in Aggression, Empathielosigkeit und Härte verwandeln. Diese Struktur ist weltweit erschreckend identisch. Die Psyche eines Mannes wird von früh an durch die Abhärtung und das Bestreben des furchtlosen, starken und stabilen Mannes traumatisiert. Sie ist voller Angst, unterdrückter Gefühle und übersättigt mit destruktiven und illusionierten Liebes- und Sexkonzepten. Wir alle wurden mit den gleichen Mustern und Geschlechterrollen sozialisiert: “Männer weinen nicht. Ein richtiger Mann kennt keinen Schmerz. Verletzlichkeit und Sensibilität ist nicht ‚männlich‘. Frauen haben sich um ihre Äußerlichkeit zu kümmern, zärtlich und sexy zu sein. Männer hingegen haben stark und hart zu sein, sie kümmern sich um ihre konkurrenzvollen Geschäfte und dürfen immer ausrasten und ihren Frust rücksichtlos auf das ‚schwache‘ Geschlecht entladen. Einen Mann als Frau oder ‚Mädchen‘ zu bezeichnen ist eine grobe Beleidigung.“ Kommen dir, liebe:r Leser:in, diese Muster bekannt vor? Die Liste solcher Stigmata kann sehr lang werden. Das ist ein gesellschaftlicher Teufelskreis, der von Generation zu Generation weitergegeben wird. Das sind die gleichen patriarchalischen Strukturen, die ich in Syrien erlebte und traurigerweise in Österreich identisch wiederfand.

Das Leben für Frauen in Österreich ist sicher besser als in Syrien.

Alleinerziehende Mütter haben ständige existenzielle Bedrohungen und leben an der Grenze zur Armut und oft darunter. Die Benachteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt und in der Bezahlung ist nicht zu kaschieren. In der Statistik zu Kapitalverbrechen (z.B. Mord) und Gewalt an Frauen ist Österreich in Europa Spitzenreiter. Die Statistiken zeigen eindeutig, dass nicht Migrant:innen alleine daran schuld sind. Ich war oft an Schulen in fast allen Bundesländern Österreichs, die nur aus “Bio-Österreicher:innen” bestehen und ich spiele auch im Fußballverein mit autochthonen Österreichern. Das herrschende Frauenbild, das ich dort erlebte, ist ekelhaft. Jetzt mag jemand kontern und sagen: „Das Leben für Frauen in Österreich ist sicher besser als in Syrien.“ Ja das stimmt ganz gewiss, aber es geht nicht um Vergleiche. Wann man die Lebensrealitäten der Frauen von Österreich mit denen in Island vergleicht, dann schneidet Österreich sehr schlecht ab. Es geht um die Tatsache, dass es noch viel Arbeit braucht. Auch in Island. Es fehlt ein aufrichtiges politisches Interesse, Projekte zu finanzieren, die diese patriarchalischen Strukturen dekonstruieren, ein neues Bild vom Mannsein schaffen, dass Männern näher an ihr Menschsein bringt. Daher erschreckt mich sehr, dass diese Politiker:innen solche Aussagen formulieren. So zu tun, als wäre die eigene Kultur idealistisch und alle andere davon lernen sollten, obwohl man diesen Handlungsbedarf hat, ist nicht nur heuchlerisch und rassistisch, sondern gefährlich und kostet viele Frauen das Leben.

Patriarchat, Sexismus und ein abwertendes Frauenbild sind immer noch eine gesellschaftliche Doxa. Als doxisch werden gesellschaftliche Phänomene bezeichnet, die tief in dem kollektiven Bewusstsein veranlagt sind, dass sie als Selbstverständlichkeit verstanden und nie hinterfragt, kritisiert und kommuniziert werden. Sie entziehen sich allen Diskursen und Debatten. Sogar Menschen, die davon betroffen sind, registrieren diese diskriminierenden Strukturen nicht und halten ihre widrige Lebenssituation für Normalität. Doxen sollen thematisierbar werden und wir müssen als Gesellschaft den Gegenwind und das Gewitter, die damit einhergehen, aushalten. Veränderung ist anstrengend. 

Das herrschende Männlichkeitskonzept ist nicht nur für als weiblich gelesene Personen bedrohlich und gefährlich, sondern auch für die Männer selbst. Es ist im wahrsten Sinn des Wortes ein Gefängnis. Bei diesem Rollenbilderkonzept lernt ein Mann nicht, sich als Mensch zu fühlen. Er kann Schmerz nicht erkennen, anerkennen und benennen und versucht ständig, Schmerz und Scham mit Wut und Aggression zu erwürgen. Ich wünsche jedem Mann von Herzen, aus diesem Gefängnis der Männlichkeit ausbrechen zu können. Du schaffst das! Es ist ein Vergnügen, ein Mensch zu sein und die eigene Verletzlichkeit zuzulassen.

Jad Turjman ist Buch-Autor, Comedian und Flüchtling aus Syrien. In seiner Kolumne schreibt er über sein Leben in Österreich.

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