“Ich bin halt immer am Werden.”

27. Juni 2022

 

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Evelyn Shi schildert in eigenen Worten ihre Gefühle, als sie im März 2020 in völliger Isolation 50 Tage zuhause blieb. ©Mafalda Rakoš

 

Ob Politik und ihre psychische Erkrankung miteinander vereinbar sind, will Evelyn Shi nicht mehr aushandeln. In Wien mangelt es oftmals an einem leichten Zugang zu medizinischer Betreuung. Davon erzählt auch Nicole J., die kürzlich ihre Tochter an Suizid verlor.

 

von Nada El-Azar-Chekh, Fotos: Mafalda Rakoš

 

„Das Sofa war damals der einsamste Ort in meiner Wohnung.” Evelyn Shi zieht an ihrer Zigarette, während ihre pechschwarze Mopsdame Emilia verschlafen durch das Wohnzimmer tappst und auf das erwähnte Möbelstück hüpft. Für gewöhnlich war das Sofa der Platz, an dem sich die 27-Jährige mit ihren Freund:innen aufgehalten hatte. Während des ersten Lockdowns wurde es jedoch zum Zentrum ihrer Einsamkeit. „Die erste Welle an Depressionen erlebte ich wahrscheinlich schon mit 17. Da habe ich mich täglich in den Schlaf geweint. In meinem Tagebuch habe ich Abschiedsbriefe verfasst.” Anfang März 2022 unternahm Evelyn erstmals einen Suizidversuch. Sie war zu dieser Zeit auf einem Seminar in Frankreich. „Ich habe mich sehr dafür geschämt, obwohl ich während meines Spitalsaufenthalts viel an mir gearbeitet habe”, so Evelyn. Ihren Unterarm ziert ein Tattoo mit dem Schriftzug “Am Werden”. Dieses hat sie sich nach ihrem Psychiatrieaufenthalt stechen lassen und spielt auf einen Song ihrer Freundin, der Musikerin Anna Mabo, an. „Ich bin halt immer am Werden, es ist ein Prozess - und das ist okay.”

 

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schlägt in einem neuen Bericht Alarm: Alleine im ersten Pandemiejahr 2020 stieg die Zahl der Diagnosen von Depressionen, Suchterkrankungen und Angststörungen um 25 Prozent. Weltweit soll eine Milliarde Menschen von Depressionen betroffen sein. Suizid wird zudem als die vierthäufigste Todesursache bei Menschen zwischen 15 und 29 Jahren angeführt. Ewald Lochner, Koordinator für Psychiatrie, Sucht- und Drogenfragen der Stadt Wien, teilt die Besorgnis. „Wir haben eine Erhebung gemacht, in der 58 Prozent der jungen WienerInnen zwischen 16 bis 34 Jahren angeben, dass sich ihre psychische Situation während der Pandemie verschlechtert hat. Im Unterschied zu den Älteren, wo es 39 Prozent sind”, so Lochner. Eine große Rolle spielte dabei auch das Social Distancing während der landesweiten Lockdowns.

 

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Das Sofa war während der Covid-Isolation der einsamste Ort in Evelyn Shis Wohnung. ©Mafalda Rakoš

 

Isolation als Treiber

 

Ganze 50 Tage am Stück war Evelyn Shi während des ersten Corona-Lockdowns im März 2020 in Isolation. Ein Jahr später begann sie eine Therapie. Die Diagnose: Borderline-Persönlichkeitsstörung. Typisch dafür sind unter anderem starke Stimmungsschwankungen, Impulsivität, ein fehlendes Selbstbild und die Tendenz zur Selbstverletzung, sowie suizidale Gedanken. Neun verschiedene Psychopharmaka nimmt Evelyn täglich ein, um ihren Gemütszustand zu regulieren. Ihre Impulsivität äußert sich vor allem durch spontane Tattoos. Am Handgelenk hat sie ihre Zimmernummer aus ihrem letzten Psychiatrieaufenthalt verewigt. Sie führt einen Stimmungskalender, in dem sich deutlich die Höhen und Tiefen abzeichnen, die sie im Laufe eines Monats durchlebt. Ursachen für eine Borderline-Störung können vielfältig sein. „Wenn ich an meine Beziehungen zurückdenke, fällt mir auf, dass ich häufig extrem intensive, aber kurzlebige Freundschaften hatte. Wann immer mir eine Sache nicht gepasst hat, habe ich schnell den Kontakt abgebrochen. Ich suche Fehler aber zuerst bei mir”, reflektiert Evelyn. So zog sie auch in ihren Liebesbeziehungen häufig die Reißleine, bevor es zu einem Ende kam. „Erst durch meine Therapie ist mir bewusst geworden, wie lange ich schon Borderline habe und dass dieses Verhalten da dazugehört”, erklärt die Wienerin.

 

Erhöhtes Risiko

 

In einer Anfang März 2022 veröffentlichten Studie der MedUni Wien und der Donau Universität Krems geht hervor, dass 56% der SchülerInnen unter depressiven Symptomatiken leiden, die Hälfte mit Angststörungen kämpft und ein Viertel Schlafstörungen hat. „Entscheidend ist auch, dass 16 Prozent der SchülerInnen angaben, suizidale Gedanken zu haben. Insgesamt ist es wichtig, dass man in diesem Bereich entstigmatisiert. Das bedeutet, dass man die Möglichkeit bieten muss, dass Betroffene darüber sprechen können, wenn es ihnen nicht gut geht, und das möglichst niederschwellig”, so Lochner, der unter anderem kaufmännischer Leiter der Psychosozialen Dienste war. Europaweit kam es zu keinem Anstieg der Suizide. “Aber die Zahl der Suizidversuche hat massiv zugenommen. Und wir wissen, dass Menschen, die einmal in ihrem Leben einen Suizidversuch unternommen haben, ein vielfach höheres Risiko haben, es wieder zu tun. Es kommt nun darauf an, dass wir diese Menschen besser in das Behandlungssystem eingliedern”, sagt Ewald Lochner. “Wir sehen, dass es Menschen gibt, die schon sehr manifest erkrankt sind. Der Ruf nach Psychotherapie ist ein guter und ein richtiger, aber man darf nicht vergessen, dass, wenn jemand psychisch erkrankt ist, es einen Arzt oder eine Ärztin braucht, um sich das anzuschauen und eine Therapiemöglichkeit zu finden. Mit all den Problemen, die damit verbunden sind.” Die Zahl der Ärztinnen und Ärzte ist bekanntlich begrenzt. 

 

Ruf nach Veränderung

 

Dass man gerade in Wien nicht leicht an eine psychiatrische Behandlung oder einen Therapieplatz kommt, weiß auch Nicole J. zu gut. Ende April nahm sich ihre Tochter Vivi nach einem langen Kampf mit Depressionen das Leben. Es war nicht der erste Suizidversuch - sie wurde nur 25 Jahre alt. Mit einer Freundin formulierte sie E-Mails an all die Stellen, die nicht geholfen haben. “Anfangs dachte ich, das bringt mir die Vivi jetzt auch nicht zurück. Aber vielleicht hilft das anderen Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind. Alle waren extrem betroffen und waren sich einig, dass sich etwas ändern müsse”, so die Mutter. Ähnlich wie bei Evelyn Shi äußerten sich erste Anzeichen für eine Depression bei ihrer Tochter bereits im Jugendalter. Vivi machte 2017, mit 18 Jahren, gerade die Matura an einer Wiener HTL, als es ihr zunehmend schlechter ging. Sie wohnte zu dieser Zeit mit ihrem damaligen Freund zusammen, die Beziehung wirkte sich negativ auf ihre Psyche aus. Vor dem Schulabschluss trennte sich das Paar, Vivi schaffte die Matura trotzdem. „Erst später hat Vivi mir erzählt, dass sie in dieser Zeit schon depressive Schübe hatte, bei denen sie nicht mehr aus dem Bett gekommen war”, so Nicole J. im Telefoninterview. 

 

Dem war nicht immer so. „Sie hatte früher ein super gutes Selbstwertgefühl - durch die Depressionen war das ganz kaputt. Manchmal sagte sie, dass sie vielleicht gar nicht krank sei, sondern nur ein schlechter Mensch sei, dass sie gar nichts könne und uns alle fertig machen würde”, erinnert sich Nicole, die auch eine jüngere Tochter hat.

 

Auch Vivi wohnte während der Coronapandemie alleine. Sie ging zu ihrer Hausärztin, um eine Überweisung für einen Psychiater zu bekommen. „Die Hausärztin riet Vivi davon ab, zu einem Psychiater zu gehen, da dies ohnehin viel zu lange dauern würde. Sie stellte anhand von Vivis Zustand Depressionen fest und verschrieb Psychopharmaka - dazu war sie aufgrund gewisser Zusatzausbildungen auch befugt”, erklärt Nicole. Eine Liste mit Einrichtungen, an die sich ihre Tochter wenden konnte, bekam sie auch mit. „Wir haben alles versucht - nirgendwo gab es einen freien Platz. Durch die Medikamente schien es ihr, zumindest nach außen hin, besser zu gehen.”

 

Politik und psychische Erkrankung - geht das?

 

Ende des Jahres 2021 verstärkte sich in Evelyn Shi ein gewisses Gefühl der Sinnlosigkeit, wie sie es beschreibt. „Seit dem Covid-Ausbruch haben sich in Abständen drei meiner Freunde das Leben genommen. Das schwingt immer mit, wenn es mir schlecht geht.” Die 27-Jährige ist in Wien als Kind chinesischer Einwanderer auf die Welt gekommen und hier aufgewachsen. Ihr Jus-Studium, das sie 2014 begonnen hat, ist momentan pausiert. Evelyn lebt in einer Zweizimmerwohnung im Wiener Bezirk Döbling, wo sie für die NEOS als Bezirksrätin tätig ist. Zudem ist sie Vorsitzende der Jugendorganisation JUNOS. Die zahlreichen Goodies, kleine Fähnchen, Sticker und Flyer in ihrer Wohnung zeugen von ihrem politischen Engagement. Über ihre Erfahrungen in der geschlossenen Psychiatrie und das Leben mit Borderline-Persönlichkeitsstörung schreibt sie offen auf Social Media. Aber Politik und psychische Erkrankung - geht das überhaupt zusammen? „Es gibt auch Menschen, die sich Sorgen um mich machen und mir raten, nicht zu offen über meine Probleme zu sprechen, da ich sonst später keine Arbeit finden würde. Oder sie warnen mich davor, dass andere nur noch das Thema psychische Gesundheit bei mir verorten. Das Stigma ist immer noch sehr groß. Mir ist das eigentlich sehr egal, ich finde es wichtiger, dass ich andere damit erreiche”, erklärt die junge Politikerin. Die Resonanz auf ihre Postings ist überwiegend positiv, sie bekommt viel Rückhalt aus ihrem Umfeld. „Ich habe allerdings mitbekommen, dass man darüber diskutierte, ob ich nicht meine politische Funktion niederlegen sollte, beziehungsweise ausgetauscht werden sollte, da ich zu labil sei. Das hat mich schon sehr verletzt. So etwas muss ich doch selbst entscheiden können. Niemand hat über diese Probleme mit mir persönlich gesprochen. Andererseits sehe ich das auch als Problem in unserer Gesellschaft”, so Evelyn Shi. 

 

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Evelyn und ihre Mopsdame Emilia. ©Mafalda Rakoš

 

Sie nutzt ihre Plattform auch, um auf Missstände aufmerksam zu machen, die ihr im Laufe der Zeit im Versorgungssystem aufgefallen sind. „Es hat Monate gedauert, bis ich einen Therapieplatz gefunden habe. Wenn es dir schlecht geht, kannst du aber nicht Monate warten. Studierendenberatung hatte ich auch probiert, aber die waren auch komplett ausgebucht. Schlussendlich habe ich mich in private Betreuung begeben”, so Evelyn.Nach ihrem Suizidversuch bei jenem Seminar in Frankreich kehrte sie nach Wien zurück und wohnte die ersten Tage zum Selbstschutz abwechselnd bei verschiedenen Freund:innen. Dann wollte sie sich doch in die Psychiatrie einweisen lassen. “Sie wollten aber mich nicht aufnehmen, da meine Situation nicht ‚akut‘ gewesen sei.” Evelyn ging also wieder und rief ihre Psychiaterin an, um die nächsten Schritte zu besprechen. „Wie konnte es sein, dass ich mir drei Tage zuvor das Leben nehmen wollte und in der Psychiatrie meine Situation als ‚nicht akut genug‘ eingeordnet wurde? Nur weil es nicht in Österreich, sondern in Frankreich passiert ist? Wenn ich damals alleine gewesen wäre, hätte mir diese Ablehnung sicher schlimm zugesetzt. Am Tag darauf war ich bei meiner Psychiaterin, die dort anrief und ein Schreiben verfasste. Dann erst wurde ich aufgenommen.”

 

Mit einem Zettel nachhause geschickt 

 

„Die Angebote für Menschen mit psychischen Erkrankungen sind in Wien in der Tat teilweise schwer zu erreichen”, bestätigt auch Psychiatrie-Koordinator Ewald Lochner. „Wir versuchen das besser zu machen, beispielsweise durch kinder- und jugendpsychiatrische Ambulatorien, die ganz niederschwellig sind.” Eröffnet wurden bereits zwei, ein drittes Ambulatorium kommt im nächsten Jahr dazu. „Bis 2030 sind sechs Ambulatorien geplant. Dort können sich Jugendliche und auch Eltern schnell und niederschwellig Hilfe holen.“ Um Hilfe leichter zugänglich zu machen, brauche es aber nicht nur ein erweitertes Angebot an Ambulatorien. Es müssten dafür auch Widerstände bei den Betroffenen und ihren Familien und Communities abgebaut, psychische Erkrankung noch stärker enttabuisiert und vor allem entstigmatisiert werden. „Wenn Jugendliche aus Familien kommen, in denen psychische Erkrankungen nicht nur kein Thema sind, sondern man sich sogar dafür schämt, ist das natürlich ein Problem. Dort müssen wir ansetzen und zeigen, dass psychische Erkrankungen behandelbar wie jede andere Krankheit und keine Schwäche sind”, so Lochner.

 

Jede Hilfe kam zu spät

 

Vivi klagte wenige Monate vor ihrem Suizid noch über ein Gefühl der Taubheit. „Ob das von den Depressionen kam oder durch die Medikamente verursacht wurde, war nicht zu ergründen. Die Hausärztin, die ihr die Medikamente verschrieben hatte, wies sie weiterhin ab”, erinnert sich ihre Mutter Nicole. „Bis Weihnachten 2021 ging alles noch. Sie war dringend auf der Suche nach einem Job, da ihre Studienbeihilfe auslief und sie weiterhin versichert sein wollte. Bei der Jobsuche wusste sie aber nicht mehr, was sie überhaupt in die Bewerbung schreiben sollte. Im Jänner war es dann ganz schlimm und Vivi ging zum Psychosozialen Dienst – dort drückte man ihr jedoch nur einen Zettel in die Hand. Danach ist sie teilweise nur noch gelegen oder hatte auch Phasen, in denen sie tausend Dinge auf einmal gemacht hat”, so Nicole J. Im Kolping-Haus hat sie eine spezielle Beratung gefunden, zu der Vivi alle zwei Wochen ging. So war sie zumindest in geringem Ausmaß in Betreuung. 

 

„Am Ende hat es mir gereicht und ich bin zu der Hausärztin gefahren, um endlich die Überweisung für den Psychiater und eine Krankschreibung für die Uni zu holen. Ich sagte, ich gehe hier nicht weg, bis ich all dies bekomme. So geschah es auch. Jedoch war es ständig so, dass ich überall, wo ich anrief, zu hören bekam: Das können Sie gar nicht machen, da Ihre Tochter über 18 ist. Aber die Vivi konnte einfach gar nichts mehr und lag nur noch im Bett. Mir wurde geraten, dass ich stattdessen die Rettung rufen soll. Aber da wäre womöglich auch nicht viel passiert”, berichtet Nicole. So offen sie über die Probleme mit ihrer Tochter spricht - in ihrer Stimme liegt immer noch die bedrückende Schwere des Verlusts. Knapp zwei Monate nach Vivis Suizid sucht Nicole J. nicht mehr nach Antworten, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Übrig geblieben ist nur die Verzweiflung über das vorangegangene Jahr, in der sie als Angehörige einer schwer Depressiven unzureichend über ihre Möglichkeiten aufgeklärt wurde.

 

„Was mich wahnsinnig gemacht hat, war dieser Informationsstau. Wichtige Details habe ich nicht gewusst. Zum Beispiel, wenn es Betroffenen nach einem Suizidversuch ‚besser‘ geht, ist die Gefahr für sie sogar oft am höchsten – solche Dinge habe ich einfach nicht gewusst. Und das habe ich auch nirgendwo gelesen. Das habe ich erst im Nachhinein erfahren”, so J. Wenige Wochen vor Vivis Suizid erfuhr sie, dass es auch Wartelistenplätze bei Therapeuten gibt. „Wir haben uns auch auf die Liste setzen lassen. Kurz nachdem Vivi Suizid verübte, wäre sie drangekommen. Wir hatten davor ein Jahr lang herumtelefoniert und erfuhren das erst viel zu spät. Beim Gynäkologen oder Hausarzt gibt es doch auch keine Wartelisten. Entweder es gibt Termine oder nicht. Wenn da jemand mit Depressionen am Telefon ist und abgewiesen wird – so jemand versucht es danach doch kaum mehr weiter.”

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Evelyn führt Tagebücher, seitdem sie 12 Jahre alt war. Sie beschreibt gerne schöne Tage, und nutzt das Schreiben, um ihre Gedanken zu verlangsamen. In der Vergangenheit schrieb sie aber auch schon Abschiedsbriefe hinein. ©Mafalda Rakoš

 

Pflegemangel auch in der Psychiatrie spürbar

 

Im März 2022 kündigten die Minister Mückstein, Plakolm und Polaschek ein 13-Millionen-Euro-Hilfspaket für die psychosoziale Betreuung von Kindern und Jugendlichen an. Für Evelyn Shi ist das immer noch viel zu wenig. „Ich habe das Gefühl, dass die meisten Politiker psychische Gesundheit als ein Label verwenden, um hier zu sagen: Wir kümmern uns darum. Aber wirklich geschehen tut dann wenig. Es gehört so viel mehr verbessert, von niederschwelliger Prävention über Suizidprävention bis hin zu Klinikaufenthalten.” Shi selbst hatte Zeit auf der geschlossenen Psychiatrie verbracht und kann von ihren Erfahrungen berichten: „Bei uns in der Klinik gab es Pfleger, die um 10 Uhr nachts erfahren haben, dass sie am nächsten Tag einspringen müssen, weil es zu wenig Pflegepersonal gab. Der Pflegemangel geht Hand in Hand mit den Plätzen in der Psychiatrie. Wenn du überarbeitetes und erschöpftes Personal hast, gibt es keine gute Verbindung zu PatientInnen. Gereizte Pflegekräfte reagieren schnell gereizt, was nicht nur für sie selbst, sondern auch für die PatientInnen eine Belastung ist”, erklärt die 27-Jährige.

 

 

Auch Psychiatrie-Koordinator Ewald Lochner sieht große Lücken im 13-Millionen-Hilfspaket. „Das ist eine Showpolitik. Für manche ist es sicher gut und richtig, wenn es um Entlastung geht. Für diejenigen, die jetzt schon krank sind, wird das keineswegs reichen. Mit diesen 13-Millionen werden neue Strukturen aufgebaut, die nicht mit den bestehenden verbunden werden. Das muss in die Gesundheitsversorgung der Länder eingebunden sein. Die wenigen Ressourcen, die es gibt, werden sonst nur noch weiter verstreut”, erklärt er. Für die Zukunft wünscht er sich für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene eine flächendeckende Versorgung mit Ambulatorien, in denen sie niederschwellig und multiprofessionell betreut werden. „Mein zweiter Wunsch ist, dass wir in Wien ausreichend niedergelassene Fachärztinnen und Fachärzte bekommen, die einen Kassenvertrag haben. Auch hier formuliere ich einen klaren Appell, dass sich in dem System der Kassenärzte und Wahlärzte etwas verändern muss. Es muss einfach möglich sein, dass Eltern mit ihren Kindern zum Kinder- und Jugendpsychiater gehen können und nicht 150 Euro für die Stunde bei einem Wahlarzt bezahlen”, so Ewald Lochner.

 

Das Gesundheitsministerium reagiert auf die Kritik des Psychiatrie-Koordinators wie folgt: “Bei den 13 Millionen Euro handelt es sich um zusätzliche finanzielle Mittel des Bundes, die als erste schnelle Hilfe für Pandemiefolgen aufgewendet wurden. Dass es einen weiteren Ausbau der psychosozialen Betreuung benötigt, steht für das BMSGPK außer Frage. Eine Finanzierung muss in diesem Fall aber gemeinsam mit den dafür zuständigen Bundesländern erfolgen. Dies muss ein gemeinsames Ziel im Rahmen der Zielsteuerung Gesundheit sein.”

 

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"Am Werden" ist Evelyns Mantra auf ihrem Weg in die Zukunft. Es ist eine Anspielung auf ein Lied der Musikerin Anna Mabo. ©Mafalda Rakoš

 

Mit Schuld und Scham umgehen lernen

 

Evelyn Shi hat eine private Krankenversicherung abgeschlossen, damit sie einen Teil ihrer Behandlungskosten zurückerhält. „Nach meinem zweiten Suizidversuch, der auf dem Nova Rock Festival passierte, hatte ich große Schuld- und Schamgefühle. Ich dachte, ich bin einfach ein Wrack und hab’s verkackt”, gibt sie zu. Bis dahin dachte Evelyn, dass sie den ersten Suizidversuch gut verarbeitet hätte. Doch der Impuls wieder zurück. Der nächste Schritt ist für sie, mit suizidalen Gedanken umgehen zu lernen. Denn diese werden immer wieder kommen. „Meine Therapeutin sagt, dass ein Suizidversuch mit dem Gedanken an einen Suizid beginnt. Ich muss lernen mir selber ein bisschen Zeit zu geben”, so Evelyn. Sie betrachtet das Tattoo auf ihrem Unterarm. „Ich bin eben noch am Werden."

 

Hilfe in Krisen
Für Menschen in Krisensituationen und deren Angehörige gibt es eine Reihe von Anlaufstellen. Unter suizid-praevention.gv.at findet man Notrufnummern und Erste Hilfe bei Suizidgedanken.Kostenlose telefonische Hilfe:
· Psychiatrische Soforthilfe (0–24 Uhr): 01 / 313 30
· Kriseninterventionszentrum (Mo–Fr 10–17 Uhr): 01 / 406 95 95, www.kriseninterventionszentrum.at 
· Rat und Hilfe bei Suizidgefahr: 0810 / 97 71 55
· Sozialpsychiatrischer Notdienst: 01 / 310 87 79
· Telefonseelsorge (0–24 Uhr): 142
· Rat auf Draht (0–24 Uhr, für Kinder und Jugendliche): 147
· Sorgentelefon für Kinder, Jugendliche & Erwachsene (Mo–Sa 14–18 Uhr): 0800 / 20 14 40
· Corona Sorgen-Hotline (Mo - So 8-20 Uhr):  01 / 4000 53000 
· Gesprächs- und Verhaltenstipps: bittelebe.at

 

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