Die Waffe in der Hose – die unterschätzte Realität von sexueller Gewalt

28. März 2023

Zuerst hieß es: Wien ist die sicherste Stadt. Es gibt keine No-Go Areas für Frauen.

Jetzt heißt es: Fahrt abends nicht allein mit den Öffis. Geht nicht allein in Parks spazieren.

Sexuelle Gewalt gegen Frauen ist eine traurige Realität, die leider alltäglich vorkommt und schwerwiegende Folgen für die Betroffenen hat.

Kommentar von Selin Öztürk

Replay the scenario: Ich sitze abends in der U-Bahn und bemerke, wie meine fatalistischen Gedanken meinen Verstand übernehmen. Jetzt geht es nur noch darum, wie ich heil nach Hause komme. Mein Körper geht in den Überlebensmodus über. Ich überlege, welche Objekte sich in meiner kleinen Tasche als potenzielle Verteidigungsgegenstände nützlich machen können. Von nun an sind Angst und Stress meine Begleiter nach Hause – noch immer besser als fremde männliche „Begleiter“, oder besser gesagt Verfolger! Aber werde ich überhaupt heil zu Hause ankommen? Das alles kam hoch, weil ich an der U-Bahn-Station „Jägerstraße“ vorbei gefahren bin. Vielleicht kommt dieses Szenario einigen Frauen bekannt vor und ich wünschte es wäre nicht so. Die Vergewaltigung einer 26-Jährigen, die sich am 18. März vor der U-Bahn-Station Jägerstraße zugetragen hat, erschütterte mich zutiefst. Ein 24-Jähriger verfolgte das Opfer durch die halbe Stadt, bevor es zur schrecklichen Tat kam. Viele Frauen kennen die Situation verfolgt zu werden – auch ich. Der Telefon-Trick,- also so zu tun als würde man telefonieren, oder tatsächlich zu telefonieren, hilft hier in den meisten Fällen als Abschreckung. Für diese eine Frau endete es in dieser Nacht nicht gut. Und ich weiß, ich bin nicht die Einzige, die sich tagtäglich die Frage stellt, ob ich die Nächste sein werde.

Ich wollte die mentalen Belastungen in Wien hinter mir lassen und plante einen kurzen Geburtstagstrip nach Mailand mit meiner besten Freundin. Natürlich hatte ich auch meine Bedenken. Welche Gefahren bergen sich in einem fremden Land für zwei 20-jährige Frauen, die allein unterwegs sind? Mein ausländischer Vater bestätigte meine Bedenken, in Form einer stundenlangen Rede über die schrecklichen Ereignisse, die Frauen weltweit in den letzten Wochen widerfahren sind. Er war nicht überzeugt von der Idee, dass wir allein wegfliegen; ich eigentlich auch nicht. Nichtsdestotrotz genoss ich meine Zeit in Mailand – bis zu dem Moment, wo ich in der Therme sexuell belästigt wurde. Es kam heraus, dass der Mann auch andere Frauen dort belästigte, und daraufhin wurde er rausgeschmissen. Das bestätigte meinen Gedanken, dass man nicht davor flüchten kann und es überall und zu jeder Zeit passieren kann. Es ist traurig, aber wahr! Das zeigt sich vor allem in Wien, wie man in den vergangenen Monaten sehen kann, wo mittlerweile Öffis, Toiletten oder Parks zum Tatort geworden sind. Für mich hat das als 20-jährige Studentin zur Folge, dass ich in den letzten Tagen sehr viel Geld ausgeben musste, um mir Fahrten mit Bolt oder Taxi zu bestellen. Die Angst ist nämlich mein treuer Begleiter, jedes Mal, wenn ich abends mit den Öffis fahre und ich gebe lieber Geld aus, als womöglich noch vergewaltigt zu werden. Ich wünschte wir würden in einer Realität leben, wo Frauen keine Angst haben müssen, abends allein mit den Öffis zu fahren. Aber so ist es leider nicht und wir müssen der Realität ins Auge schauen. Nur so kann man zu einer Lösung finden. 

Auf Sicherheitsvorkehrungen in den Öffis angesprochen, verweisen die Wiener Linien auf Notsprecheinrichtungen in den Fahrzeugen oder am Bahnsteig. Aber wie soll eine Frau, die am Boden liegt, die Notsprechtaste betätigen? Was hat die Regierung getan, um Frauen besser zu schützen oder was macht sie im Moment? Nicht viel, ist meine Antwort. Meistens wird man sogar entmutigt, wenn man eine sexuelle Belästigung strafrechtlich verfolgen will. Und das habe ich schon in einigen Situationen am eigenen Leib erfahren müssen. Als ich eine sexuelle Belästigung anzeigen wollte, hat mich der Polizist, der damals im Dienst war, angerufen und mich mit seinen Worten entmutigt den Mann anzuzeigen. Seine Worte: „Das wird nichts bringen. Sogar am Donauinselfest, wo Frauen im Intimbereich begrapscht wurden, kam es nie zu einer Anzeige. „Stellen Sie sich doch nicht so an“. Die Video-Aufzeichnungen von dem eben erwähnten Vorfall, die sehr wohl existieren, bekam ich auch nie. Wie ist das alles zu entschuldigen? Angesichts der jüngsten Fälle von sexueller Belästigung und Gewalt an Frauen ist es an der Zeit, dass wir als Gesellschaft zusammenkommen und eine klare Botschaft senden, anstatt weg zu schauen: Wir werden solche Verbrecher nicht tolerieren und zur Rechenschaft ziehen. Es ist an der Zeit, dass wir uns alle dafür einsetzen, eine Gesellschaft zu schaffen, in der sexuelle Gewalt und Belästigung keinen Platz haben und Frauen sich endlich sicher, gehört und respektiert fühlen.

Hilfe für Gewaltbetroffene gibt es hier:

24-Stunden Frauennotruf der Stadt Wien: 01 71719

Beratungsstelle Tamar - für misshandelte und sexuell missbrauchte Frauen, Mädchen und Kinder: 01 3340437

Frauenhelpline (Mo–So, 0–24 Uhr, anonym und kostenlos): 0800 / 222 555

Gewaltschutzzentren (anonym und kostenlos): 0800 / 700 217

Telefonseelsorge (Mo–So, 0–24 Uhr, vertraulich und kostenlos): 142

 

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