How To Spot A Dersimli

13. März 2023

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Bild von TikTok @d3niz.62

Tattoos, Autokennzeichen und Instagram-Bio. Wie eine Bevölkerungsgruppe diese Dinge inklusive einer Zahl zur Identifikation nutzt. 

Es ist Freitagabend. Frankfurt ist am Leben und fühlt sich an wie der Mittelpunkt der Erde. Um uns herum tausende junge Menschen, die ihre stressige Woche in einer Bar ausklingen lassen, ihren Frust über die gescheiterte Klausur bei einem Vodka-E abbauen, oder in irgendeinen Club ziehen. Andere Option wäre alle drei Dinge kombiniert.Die Atmosphäre lädt zum Mitgehen ein, doch wir haben einen anderen Plan.Unser Verständnis von einem entspannten Wochenende beinhaltet nämlich einen  Traube-Minze Kopf in unserer Stamm Shisha Bar in Kombi mit einer schwarzen Dose.

Der Weg in die Bar gestaltet sich wie jedes Mal als Abenteuer. Vorbei am Bahnhofsviertel, wo dir an jeder Ecke entweder Drogen oder sexuelle Handlungen angeboten werden, weiter Richtung Innenstadt, wo einem Auftritt in einem Straßenumfrage YouTube Video nichts im Weg steht. Angekommen in der Bar kommen Stück weit Heimatgefühle hoch. Viele Menschen innerhalb der Migra-Community treffen sich hier, um sich auszutauschen oder einfach den Abend zu genießen. Während wir zu unserem Tisch laufen, spotte ich die erste Person mit einem bekannten Tattoo. Das Wort „Dersim“ streckt sich über seinen Unterarm und bringt mich zum Schmunzeln. Mein Cousin hat genau dasselbe Tattoo an der gleichen Stelle.

Für alle, die jetzt ein großes Fragezeichen im Kopf haben: Dersim ist der ursprüngliche Name einer kurdischen Provinz in der Türkei. Im Jahr 1935 wurde die Region durch die türkische Regierung auf den türkischen Namen „Tunceli“ umbenannt. Jedoch nutzen viele kurdische Personen den Namen Dersim, wenn sie von ihrer Heimat reden. Die Zahl der Provinz, hier die 62, spielt auch eine große Rolle bei der Identifikation vieler aus Dersim stammenden Personen im Ausland. Meine Eltern zum Beispiel hatten eine lange Zeit 62 als Zahl in ihrem Autokennzeichen. Ändern mussten sie das auf Grund ihrer nervigen Tochter, die unbedingt ihren Anfangsbuchstaben „H“ mit im Kennzeichen wollte und die Kombi „H 62“ nicht mehr verfügbar war. Aber 44 ist doch auch eine schöne Zahl, oder? Für meine Eltern nicht so witzig, da natürlich nicht nur Dersim eine Provinzzahl besitzt, mit der sich jeder identifiziert. Auch andere Kurd:innen in der Community verwenden Zahlen zur Erkennung, wie beispielsweise die Provinz Malatya mit der Zahl 44. 

Jedenfalls hat mich diese Zahl in meiner Kindheit noch weiterverfolgt. Sämtliche Passwörter oder Nutzernamen für Geräte in unserem Haushalt enthielten ebenso diese zwei Nummern. Auch in meiner Jugend ist es als eine aus Dersim stammende Person nahezu unmöglich, der Provinznummer aus dem Weg zu gehen. Auf Instagram haben viele meiner Cousins und Cousinen die 62 entweder im Nutzernamen mit drinnen, oder in irgendeiner Form in ihrer Biografie erwähnt. Mein Cousin erklärte mir es sei dafür da um „Chayas aus Dersim besser zu erkennen“. Er ist auch der, dessen Unterarm das Wort Dersim schmückt. Das Highlight der Geschichte ist jedoch die Zweckentfremdung von Instagram als persönliches Dating Portal. Hier schaut er nämlich gezielt unter dem Hashtag 62 oder Dersim nach Frauen, die auch aus der Provinz kommen, aber wie er in Deutschland leben. Die Liste der Identifikationsmöglichkeiten ist also erkennbar lang. In meinem Kleiderschrank befindet sich auch ein Hoodie, wo „Straight Outta Dersim“ draufsteht. Meine deutschen Freunde fanden das immer komisch, für mich ist es in irgendeiner Art normal geworden.  

Früher habe ich dieses ganze „Tamtam um die Zahl“ auch nicht verstanden. Je mehr ich jedoch über die Geschichte meiner Herkunftsregion gelernt habe, desto eher wurde mir klar, warum die Identifizierung für viele Dersimli so wichtig ist. In den Jahren 1937/38 kam es in Dersim zu einem Aufstand der kurdischen Bevölkerung, bei dem unzähligen alevitischen Kurd:innen das Leben und ihre Identität genommen wurde. Auch nach dem Massaker wurde die kurdische Bevölkerung unterdrückt und kleingehalten. Ihre eigene Sprache wurde ihnen verboten, gefolgt von ihren Traditionen und der Kultur. Bis heute wird das Genozid nach offiziellen Angaben als „Aufstand“ und nicht als Massaker betitelt. Die strenge Assimilationspolitik der türkischen Regierung zwang viele Bewohner:innen Dersims ins Ausland. Durch die erwähnten Identifikationsmöglichkeiten erkennt man sich dennoch immer wieder. Egal ob in Kanada, in Frankreich oder in irgendeinem anderen Teil der Welt, wenn sich zwei Dersimlis treffen, ist es wie ein Wiedersehen alter Bekannten. Wir als Nachfahren leben also unsere Kultur und unseren Stolz so aus, wie es unseren eigenen Vorfahren verboten wurde. 

 

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