Die strenge Schwester

03. Oktober 2018

Wenn deine Eltern kaum Deutsch sprechen, musst du eben auf Elternsprechtage der Geschwister gehen, im Mitteilungsheft unterschreiben und auch auf den Tisch hauen. Aus dem Alltag unserer Redakteurin Aadilah Amin.


„Habt ihr etwas zum Unterschreiben?“, fragte ich meine beiden Schwestern. „Nein.“, sagte Naziah und verschränkte ihre Arme. Sabira antwortete mir erst gar nicht, weil sie schon wieder am Träumen war. Sie sprang auf und wuselte durch die ganze Wohnung. Währenddessen hatte sich mein älterer Bruder, Musti, in seinem Zimmer eingeschlossen. Aus der Küche roch es nach Koriander, Chili, Kardamon oder Zimt, die meine Mutter in einem afghanischen Essen verschmelzen ließ. Mein Vater schaute sich wie jeden Tag nach seiner harten Arbeit auf der Baustelle die Nachrichten an. Er machte das bevorzugt sehr laut, was mich dazu veranlasste, ihn zu bitten, den Fernseher leiser zu stellen.                                                                         

Schwestern, Familie

„Wusste nicht, wie man einen Stift hält“

Ganz normaler Alltag in meiner Familie. Meine Geschwister besuchten die Volksschule in Simmering. Meine Eltern, beide aufgewachsen in einem kleinen Dorf in Afghanistan, gingen nie zur Schule. Mein Vater, der als Soldat in seinem Heimatland arbeitete, brachte sich das Lesen und Schreiben selbst bei. Meine Mutter war bis zu ihrem 35. Lebensjahr eine Analphabetin. „Ich wusste am Anfang nicht, wie man einen Stift richtig hält“, erinnert sie sich. Aus diesem Grund wussten meine Eltern gar nicht, was ein Mitteilungsheft ist. Geschweige denn, dass sie in das Heft auch ihre Signatur setzen mussten. Aus diesem Grund war mein Heft versehen mit vielen „Fehlzeichen“, darauf machte mich meine Lehrerin recht bald aufmerksam.

Aufgrund dieser Ausgangslage war es nicht weiter verwunderlich, dass ich als Zweitälteste, aber beste Schülerin, die Erziehung meiner Geschwister in die Hand nehmen musste. Dazu gehörte auch der Gang zum Elternsprechtag, an den sich die wenigsten Schüler positiv erinnern. Nur war ich dieses Mal auf der anderen Seite. Nicht die Schülerin, die was ausgefasst hat, sondern die besorgte Schwester, die die Kritik an ihren Geschwistern einstecken musste. Oft kam ich Naziah auf die Schliche, die vor meiner Mutter beteuerte, dass sie brav ist und überhaupt nicht zum Elternsprechtag kommen müsse. Ich wurde misstrauisch, weil ich wusste, dass sie Probleme in Mathe hatte. Naziah hasste mich dafür. Aber ich musste streng zu ihr sein. Als Erziehungsberechtigte.

Manchmal habe ich aber ein Auge zugedrückt. „Bitte sag nicht Mama, dass ich einen Fünfer bekomme oder gefährdet bin. Sie wird traurig sein“, flehte mich Naziah an. Ich spielte oft mit. Wenn meine Mutter mich fragte: „Gut oder nicht?“, log ich sie an und sagte: „Du weißt wie gut sie in Mathe ist, unser Zahlengenie.“ Meine Verantwortung ging so weit, dass ich sogar in die Rolle des Vormunds für meinen älteren Bruder schlüpfte. Ihr könnt euch sicher vorstellen, wie die Lehrer geschaut haben, als sie eine drei Jahre jüngere Schwester als Elternersatz sahen. Mein Bruder war 16, ich gerade 13. Irritationen waren vorprogrammiert.

Eine Stunde Fußmarsch zur Schule

Zu dieser Zeit musste ich nicht nur die strenge Schwester spielen und zu Elternsprechtagen gehen. Auch das Unterschreiben im Namen meiner Eltern gehörte nun zu meinen Kompetenzen. Die Unterschrift meines Vaters zu fälschen - das hatte ich von meinem großen Bruder gelernt. Natürlich wusste niemand außer mir im Haus, dass mein Bruder selbst seine Mitteilungshefte unterschrieb. Er war abgebrüht und viel zu reif für sein Alter. Das kann auch daher kommen, dass er in Afghanistan über eine Stunde zur Schule marschieren musste. Ich sah mir seine Bewegungen genau an, wie er die Unterschrift meines Vaters nachzog, und hatte kurze Zeit später den Dreh raus. Zur Freude meiner Geschwister, die von nun an immer zu mir mit ihren schlechten Noten kamen. Sie schleimten sich sogar bei mir ein, damit ich nichts weitererzählte. „Wow, du kannst das so gut, dabei ist die Unterschrift des Vaters auf Persisch so schwer“, schwärmten meine Geschwister. Auch wenn ich wusste, dass es ein Teil ihres Plans ist, machten mich ihre Worte stolz und motivierten mich für weitere Elterntaten.

Heute, rund zehn Jahre später, hat mein Bruder, Musti, die HTL abgeschlossen. Die Schwestern Naziah, Sabira und ich haben das Gymnasium erfolgreich absolviert. Ich muss zähneknirschend zugeben, dass die beiden Mädels sogar schneller mit ihrem Studium vorankommen als ich es tue. Naziah wird nächstes Jahr ihren Bachelor machen, Sabira paukt Tag und Nacht für ihr Studium der Rechtswissenschaften. Sie sind der wichtigste Grund, wieso ich lebe. Früher war ich ihre Stütze, heute sind sie mein Anker im Leben. Sie sind alles, was ich in meinem Herzen festhalten möchte.

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