Lebe deinen Traum - bis die Steuererklärung fällig ist

27. Juni 2022

Seit einigen Monaten bin ich selbstständig. Als ich mich dazu entschied, war ich überglücklich, endlich meine gesamte Zeit dem zu widmen, was mich wirklich erfüllt -  Schreiben und Comedy. Aber der Prozess, selbstständig zu werden, entpuppte sich als ein bürokratisches Labyrinth. Als Mensch, der mit Zahlen und Mathematik nichts am Hut hat, verwirrte mich das steuerliche Chaos. Meine Ahnungslosigkeit war unermesslich, was man alles bedenken muss. So holte ich mir Hilfe einer Steuerberaterin. Ich war nun bereit, mich auf meine kreative Arbeit zu konzentrieren. Aber leider musste ich eine weitere Tücke der Selbstständigkeit feststellen: der gesellschaftliche Druck aus Syrien wie auch aus Österreich. Als ich mit Damaskus telefonierte, fragte meine Mutter: “Was willst du den ganzen Tag als arbeitsloser Schriftsteller machen?” Und das war nicht der einzige vernichtende Kommentar. Sie setzte fort: “Als dein Vater so alt war wie du, hatte er drei Kinder und ein Geschäft in Damaskus und du sitzt da und schaust ins Leere.” Im Hintergrund hörte ich meinen Vater sie beschwichtigen: “Sag nicht ‘arbeitslos’ zu ihm, sonst schickt er dir kein Geld mehr!” Wobei mein Vater nicht gnädiger mit seinen Kommentaren ist als meine Mutter. Seit er von meinen Auftritten als Stand-up-Comedian erfahren hatte, nennt er mich ‘Clown’. Er hat nicht unrecht, aber es kommt dem gleich, wenn man eine Sexarbeiterin ‘Hure’ nennt. Meine Mutter ließ tatsächlich das Thema ‘arbeitslos’, aber ihr Predigen über Heirat und Kinder kriegen hört nicht auf. Sie hatte nämlich eine Frau in Damaskus für mich gefunden, die ich heiraten soll. Aber das ist ein anderes Thema.

Flüchtling und selbständig - Wie soll das gehen?

In Österreich erlebe ich oft in den Gesichtern der Menschen, dass es einer Anmaßung gleichkommt, wenn ich ihnen erzähle, dass ich selbstständig bin. “Wie kann ein Flüchtling, der 2015 nach Österreich gekommen ist, es sich so gut gehen lassen, wenn ich den ganzen Tag im Büro die Stellung halten muss?”, übersetzte ich manche Blicke derjenigen, die mich schief blickten, nachdem sie von meiner neuen Arbeitssituation erfuhren. Bei einem Bekannten konnte sich der Rassismus nicht verbergen. Er witzelte: ”Ihr arbeitet eh nicht gerne.” Als hätte ein Mensch mit Fluchterfahrung wie ich, keinen Anspruch darauf, künstlerisch tätig zu werden. Diese Haltung belastete mich äußerst stark. So merkte ich bei Gesprächen mit anderen, dass ich mich dauernd rechtfertigte und erklärte, wieviel ich arbeiten musste und dass ich Psychotherapie an der Uni studiere und dafür sehr viele Arbeiten abliefern muss. Nebenbei bin ich ehrenamtlich in Hilfsorganisationen tätig und so weiter. Ich war eindeutig vom Zwang der Leistungsgesellschaft infiziert. Noch dazu litt meine Kreativität unter diesem Druck. So entschied ich mich, mit allen Mitteln diese gesellschaftliche Verkrampftheit zu bekämpfen. Als Mensch, der gerne am Abend arbeitet, trinke ich gerne am Montag in der Früh genüsslich meinen Mokka vor dem Haus und winke allen unglücklichen Gesichtern fröhlich entspannt zu. Oder ich poste auf Instagram zu Mittag Bilder von meinen kleinen Wanderungen. Das letzte Mal schrieb ich zu dem Foto vom Berg einen kitschigen Spruch: “Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum, bis die Steuererklärung fällig ist.” Fazit: Selbstständigkeit kommt der Situation gleich, wenn du hungrig bist und auf einem Tisch bunten Obstteller findest, du greifst zu und stellst fest, dass es sich um Plastikobst handelt.

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