Baby-Professoren und Niemals-Architekten

13. September 2012

 

Mein Berufsweg begann in der Geburtsklinik. Es gibt einen bulgarischen Aberglauben, wonach der Ort, an den die Nabelschnur eines Kindes geworfen wird, seine spätere berufliche Laufbahn bestimmt. Bleibt die Nabelschnur im Krankenhaus, dann wird das Kind Arzt. Wird sie heimlich im Theater versteckt, dann wartet eine schauspielerische Karriere. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass die Nabelschnur im Müll landet. Mein Vater warf meine Nabelschnur damals auf das Dach der bulgarischen Akademie der Wissenschaften.

 

Herr Professor

Noch bevor ich gehen konnte, nannten mich alle „Herr Professor”. Nach dem großen Nabelschnur-Schmeißen kommt in Bulgarien ein weiterer Test für das berufliche Interesse des Kindes. Nach den ersten Gehversuchen des Kindes werden auf einen kleinen Tisch verschiedene Gegenstände hingelegt. Gelockt von den interessanten und unbekannten Sachen, steuert das Kind darauf zu und nimmt einen dieser Gegenstände. Das, wonach es als Erstes greift, bestimmt den beruflichen Werdegang. Da meine Verwandten schon entschieden hatten, dass ich Professor werde, gab es auf dem kleinen Tisch ein dickes Buch, ein Stück Kreide und andere Sachen, die mich in die wissenschaftliche Laufbahn zwingen sollten. Jemand hat aber dort auch ein Mikrofon hingelegt. Heute gibt das niemand zu. Jeder beschuldigt den anderen, dass er auf dieser Art und Weise einen Stock in die Räder meiner wissenschaftlichen Laufbahn gesteckt hat. Es passierte nämlich Folgendes: Ich ignorierte die dicken Bücher und steuerte ohne Bedenken in Richtung dieses wunderbaren Stocks mit Löchern und einem Kabel. Ich habe nie gewusst, was ich mal werden soll. „Was wirst du werden, wenn du groß bist?“ „Na, eben groß!“, zuckte ich immer mit den Schultern.

 

Mikrofon im Mund

Ganz anders mein Freund Milan: Wir beide waren das beste Schultandem, das man sich vorstellen kann. Ich schrieb von ihm in den Fächern ab, wo er gut war und umgekehrt. Milan war sich seit seinem achten Lebensjahr sicher, dass er im Ausland Architektur studieren wird, um später die Baufirma seines Vaters in Sofia zu übernehmen. „Mach die Rechnung nie ohne den Wirten“, besagt ein bulgarisches Sprichwort. Milan ist noch immer nicht zurück. Er hat eine mexikanische Freundin in Spanien und hat überhaupt keine Lust, wieder nach Bulgarien zurückzukehren. „Das Sicherste bleibt immer, nur das Nächste zu tun, was vor uns liegt“, schreibt Goethe in seinem Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. Meine Verwandten haben sich längst von der Hoffnung getrennt, dass ich eines Tages Professor werde. Ab und zu sagt jemand lächelnd: „Ja, als Kind warst du ein Professor und jetzt…“ Keiner spricht den Satz zu Ende. Aber ich will auch nicht fragen. Da ich immer zu viel spreche, sagt meine Mutter manchmal: „Die anderen Mütter gebären ihre Kinder mit einem goldenen Löffel im Mund, ich habe meines mit einem Mikrofon bekommen.“ Ob sie froh darüber ist, will ich auch nicht fragen.

 

Die Klugen dieser Welt

Da ich noch immer nicht weiß, was ich mal werde, wenn ich groß bin, beantworte ich diese Frage wieder mit einem Zitat von Goethe: „Man sollte alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen und, wenn es möglich zu machen wäre, einige vernünftige Worte sprechen.“ Ich glaube, die klugen Schriftsteller haben ihre Bücher geschrieben, um uns, Normalsterbliche, aus den schwierigsten Situationen des Lebens herausziehen und vor den heikelsten Fragen zu retten.

 

Von Todor Ovtcharov

                                                                                                                                                

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