Der Krieg ist ein Symptom des Patriachats

25. Februar 2022

Ich will diesen Albtraum nicht akzeptieren. Ich weigere mich seit Tagen vehement, die Nachrichten über die Eskalationen in der Ukraine zu verfolgen. Ich will nichts von Krieg hören. Nicht schon wieder. Ich kann mich damit nicht befassen, ohne dass die Bilder vom Krieg das Chaos und den Schmerz in mir über den damals in Syrien erlebten Krieg ausgelöst werden. Die Geschehnisse sind dermaßen retraumatisierend und triggernd.

von Jad Tujrman

Ich habe mein Handy vorgestern ausgeschaltet und bin auf einen Berg gegangen. Ich wollte nichts von diesem Krieg hören. In schwierigen Zeiten suche ich immer Unterschlupf in der Natur. Aber diesmal wirkten die Ruhe und der Frieden in der Natur auf mich sehr schmerzhaft. Weil sie neben dem Wahnsinn der Menschen sehr fragil schienen. Als der Krieg in Syrien begann, wollte ihn niemand wahrhaben. Wir dachten, es sei einfach vorübergehende Unruhe. Kein Mensch, auch nicht diejenigen, die am meisten pessimistisch waren, konnte sich das verheerende Ausmaß, das der Krieg nahm, vorstellen. Die Zündschnur der Gewalt brannte unbegreiflich schnell ab. Jetzt scheint der Krieg so absurd normal, dass Kinder meines Bruders, sich gegenseitig auslachten für ihr Zähneklappern, als in der Nähe heftig bombardiert wurde, oder über ihre Bettnässe, als eine Rakete im nächsten Wohnblock landete. Und das ist das Schlimmste am Krieg: er entleert uns unserer Menschlichkeit.

Ich möchte, dass sich keine weitere Menschen an Gewalt und Krieg gewöhnen müssen. Denn das, was gerade geschieht, ist nicht normal. Es ist krank und zutiefst unmenschlich. 

Dieser Krieg ist jedenfalls ein Symptom. Die Krankheit ist das Patriachat.

Ich konnte meine emotionale Distanzierung von diesem aggressiven Angriff Putins auf die Ukraine nicht aufrechterhalten. Denn spätestens als Menschen sich auf die Flucht begaben, ergriffen mich diese Geschehnisse mit voller Macht. Ich kann ihre Angst, ihre Verstörung und ihr Entsetzen in meinem Körper nachempfinden. Dazu gezwungen zu werden, die eigene Heimat so panisch und planlos verlassen zu müssen, ist eine hoch traumatische Erfahrung, die sich in dem Gedächtnis dieses Volkes tief einbrennt. Diesen Menschen zu helfen sollte unsere erstrangige Priorität sein. 

Natürlich macht mich die Doppelmoral in Europa, die Solidarität nach ihrer Entfernung vom Geschehen zu bemessen, fassungslos. Nur deshalb auf Kriege emotional zu reagieren, weil sie sehr nahe zu uns sind, ist nicht sehr humanistisch, sondern selbstbezogen. Eine aufrichtige Solidarität gilt jedem Menschen, unabhängig von der Entfernung der Misere und seiner ethischen Zugehörigkeit. Wir hatten genug Kriege und Menschenrechtsverletzungen in den letzten Jahren, für die keine ZIB Spezial gemacht wurde. Ebenfalls macht mich die Doppelmoral Polens und Ungarns fassungslos, die Grenze für die ukrainische Geflüchtete zu öffnen und sie mit weitausgestreckten Armen zu empfangen. Wobei sie vor ein paar Monaten syrische und afghanische Geflüchtete mit Tränengasbomben empfingen und einige an der Grenze erfrieren ließen. Was diese Selektivität von Solidarität bedeutet, ist ein anderes Thema. Ich bin jedenfalls froh und dankbar, dass sie nun für diese Menschen das tun, was für Menschen in Not getan werden muss.  Dieser Krieg ist jedenfalls ein Symptom. Die Krankheit ist das Patriachat. Die Krankheit sind Männer, die nie gelernt haben, ihren Schmerz zu spüren, zu zeigen und zu benennen. Die Krankheit sind Männer, die ihren Schmerz und ihre Verletzlichkeit in Härte und Empathielosigkeit verwandeln. Die Krankheit sind Männer, die Feinde und Kriege brauchen, um sich von ihrem inneren Terror und Schmerz abzulenken. Wir brauchen unbedingt neue und heilende Männlichkeitsbilder. Wir brauchen viel mehr Frauen in der Politik. 
 

Dieser Krieg ist ein weiteres Alarmzeichen, dass unser Wegschauen bei einer Menschenrechtsverletzung auf der anderen Seite der Erde ein weiterer Riss im zarten Gewebe unseres Friedens ist. Der Weltfrieden erfordert von allen das gleiche Engagement und die gleiche Reaktion auf Ungerechtigkeiten, egal wo sie stattfinden.

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Kommentare

 

V. Putin ist jetzt erledigt. Und das unabhängig davon, wie das ausgeht in der Ukraine. Ihm wird niemand mehr auch nur im Ansatz vertrauen. Und das wird ihm langfristig alle Optionen nehmen.

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