Deutschland und Österreich, das sind auch eure Wähler:innen.

31. Mai 2023

Aus der Kolumne "Der Quoten-Almanci" von Özben Önal

In den letzten Wochen drehte sich bei mir alles um die Politik in der Türkei: Die Konsequenzen des Erdbebens und der unterlassenen Prävention, die anstehenden Wahlen und gesellschaftspolitischen Konflikte innerhalb der Bevölkerung. Mein Entschluss, mich eine Weile zurückzuziehen, stand eigentlich fest. Ich habe mich genug angestrengt, es hat nicht funktioniert. Nennt es kindliche Sturheit oder Trotz – die weitaus mehr als positiven Reaktionen auf die Wiederwahl Recep Tayyip Erdoğans hier in Österreich und Deutschland machen mich wütend und fassungslos. Was genau wird eigentlich gefeiert? Dass der Urlaub in Bodrum oder Çesme dieses Jahr im Sommer noch günstiger wird, weil der Lira immer weiter fällt?  Oder die Koalition mit einer islamisch-konservativen Partei die der Meinung ist, Frauen müssten schnellstmöglich verheiratet werden um Familien zu gründen und Kinder zu gebären? In den letzten Tagen habe ich mich geschämt, (Quoten-)Almanci zu sein. Während wir hier von den Privilegien demokratischer Staaten profitieren haben wir dort über das Schicksal von Millionen von Menschen entschieden, die erneut der Machtgeilheit eines Autokraten ausgesetzt sind, der die LGBTQIA+ Community von seinem Palast aus als unmoralisch und sittenlos bezeichnet, während sein Volk unter der Hyperinflation im Supermarkt zwei Mal darüber nachdenken muss, ob es sich Milchprodukte leisten kann. Nach ein paar Tagen der Cool-Down-Phase bin ich nun aber überzeugt, dass apolitisch zu sein und sich zurückzuziehen nicht die Lösung ist – vor allem nicht als privilegierte Deutsch-Türkin mit deutscher Staatsbürgerschaft. Es ist die Hälfte der Bevölkerung in der Türkei, die Erdogan nicht als Präsidenten wollte. Es ist nun wichtiger denn je, für die Rechte von Frauen und marginalisierten Gruppen zu kämpfen.

Erdoğan weiß wie er die Türk:innen in Europa für sich gewinnt

Eine Verantwortung tragen meiner Meinung nach auch Deutschland und Österreich für die Wahlergebnisse der europäischen Wahlberechtigten. Die politischen Narrative über unintegrierte Massen von migrantischen Menschen, die schon längst nicht mehr nur Hetze von rechtspopulistischen Parteien wie der FPÖ oder AfD sind, treiben die Türk:innen direkt in die Arme eines Faschisten. Denn er weiß genau, wie er Menschen adressiert, die mit dem Gefühl der Zugehörigkeit in Deutschland und Österreich zu kämpfen haben. Er fängt sie auf, indem er die Heuchelei der europäischen Staaten und ihren Rassismus adressiert. Er bietet ihnen die Alternative aus Trotz den Nationalstolz in ihrem vermeintlichen Heimatland zu stärken. Erinnern wir uns an Mesut Özil und seinen Austritt aus der deutschen Nationalmannschaft – er klagte über den deutschen Fußballverband und Fans die ihn als Deutschen sahen, wenn er Tore schoss und als Türken, wenn die Mannschaft verlor. Erdogan instrumentalisierte die empörten Reaktionen der Deutschen auf das Foto das von ihm, Mesut Özil und Ilkay Gündogan auftauchte und die Entscheidung Özils in die Türkei zu ziehen, für seine Zwecke. Er entfachte innerhalb der türkischen Community ein Gefühl von Zusammenhalt. Von der Geschichte der deutschen bzw. österreichischen Ausbeutung von sogenannten „Gastarbeiter:innen“, die mit 10.500 Mark zurück in ihre Heimatländer geschickt werden sollten,  bis zum heutigen Tag, an dem Politiker wie Mahrer oder Waldhäusl behaupten, Wien sei durch die migrantische Bevölkerung nicht mehr Wien, zieht sich eine ewig lange Spur der Ausgrenzung und des Rassismus durch die Zeit. Also Deutschland und Österreich, Tenor ist ab jetzt: Wenn wir uns über hupende Autokorsos und Türkei-Flaggen aufregen, dann sollten wir gleichzeitig auch reflektieren welche Verantwortung wir tragen, wenn Wahlberechtige in Überzahl einen Autokraten in der Türkei wählen.

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