„Die Hemmschwellen sind weggefallen.“

05. November 2020

Der Politologe und Türkei-Experte Cengiz Günay über die Geschichte der „Grauen Wölfe“, die Nähe zu den Erdogan-Anhängern und den Grund, warum man nach dem Terroranschlag die Schuld bei den Behörden suchen muss.


Von Amar Rajković
 

biber: Beim Terroranschlag am Montag retteten zwei junge Männer das Leben von einem Polizisten und einer älteren Dame. Nachdem sie anfangs als Helden gefeiert wurden, kam danach die Kritik. Auf den Social Media Kanälen der beiden taucht das Symbol der Grauen Wölfe auf. Können Sie uns einen Überblick zur Geschichte der Organisation geben, von der Entstehung bis heute?

Cengiz Günay: Die Grauen Wölfe als Organisation gibt es in der Form nicht mehr. Heute heißen sie „Ideale Horte“ (auf türkisch: Ülkü Ocaklari). Ende der 60er Jahre tat sich aus dem politischen Mitte- Rechts Spektrum die Partei MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) hervor. Die Grauen Wölfe waren damals eine Vorfeldorganisation, der para-militärische Arm, der MHP. In dieser Zeit fand eine starke politische Polarisierung in der Türkei statt. Die Zentrumsparteien konnten keinen Konsens finden. Die politische Auseinandersetzung verlagerte sich immer mehr auf die Straße. Im linken Spektrum bildeten sich unter anderem auch alevitische, kurdische Organisationen, im rechten die Grauen Wölfe, aber auch islamistische Gruppierungen. Es kam in den 1970er Jahren zu Geiselnahmen, Schießereien, Anschlägen. An diesen waren auch die Graue Wölfe beteiligt. Im Kontext des Kalten Krieges war der Staat auf dem rechten Auge blind. Gegen linke Gruppierungen wurde viel rigoroser vorgegangen als gegen rechte Organisationen.

Nach dem Militärputsch von 1980 wurden alle Organisationen verboten bzw. aufgelöst. Die türkische Gesellschaft sollte entpolitisiert werden. Es wurde die sogenannte islamisch/türkische Synthese von staatlicher Seite umgesetzt. Türkentum wurde immer mehr in Verbindung mit dem Islam dargestellt. Islamischer Schulunterricht wurde eingeführt. Konservative TV-Programme, aber auch Schulbücher  transportierten konservative Rollenbilder. In den 1990er Jahren erfanden sich die Grauen Wölfe neu. Sie nannten sich in die Idealen Horte um und sagten der Gewalt ab. So versuchten sie sich immer mehr in den Mainstream zu integrieren. Gleichzeitig hatten die Netzwerke rund um die Partei auch eine zwielichtige Rolle im Anti-Terrorkampf gegen die kurdische PKK in den 1990er Jahren gespielt. Die MHP war in den letzten zwei Jahrzehnten mehrfach an der Regierung beteiligt. Dies erlaubte es der Partei, ihre ultranationalistischen Kader im Staatsapparat und in den Ministerien unterzubringen. Der Fokus auf „Sicherheitsministerien“ und die Sicherheitsbehörden stellt eine gewisse Parallele zu rechtextremen Parteien in Europa und auch dem Handeln der FPÖ da.

Wie äußert sich der Einfluss der Grauen Wölfe in der heutigen Türkei?

Die MHP hat sich nach dem Militärputsch 2016 zum Steigbügelhalter Erdogans entwickelt. Sie ermöglichte durch ihre Unterstützung den Wechsel zum Präsidialsystem. Außerdem konnte die MHP viele ihrer Kader nach den „Säuberungen“ von Gülenisten im Staatsdienst unterbringen. Die MHP wurde zum Koalitionspartner der regierenden AKP. Die beiden Parteien treten gemeinsam bei Wahlen im sogenannten Republiks-Bündnis an. Ohne Unterstützung der MHP würden Präsident Erdogan und seine Partei die Mehrheit verlieren. Dieses neue Bündnis ist auch ein Grund, warum Präsident Erdogan in der Kurden-Politik eine Kehrtwende einlegte. Es kam zum Abbruch des Friedensprozesses mit der PKK und zu einer Re-Militarisierung des Konflikts.

Man hat das Gefühl, das Graue-Wölfe-Symbol gehört zur Pop-Kultur unter der türkischen Bevölkerung. Vor allem seit den Unruhen in Favoriten schaut jedoch die Öffentlichkeit ganz genau drauf.

Durch den Versuch der Ultranationalisten, sich in den Mainstream einzubringen und als eine nicht-extremistische Organisation aufzutreten, sind die Hemmschwellen weggefallen. Die MHP ist längst im Mainstream angelangt und man muss auch anmerken, dass nicht jedes Mitglied dieser Partei extremistisch ist. Manche Menschen, die das Symbol zeigen, machen es sehr wohl bewusst, weil sie dieser Organisation angehören oder mit ihr sympathisieren. Manche anderen sehen es als Provokation, beziehungsweise finden es lustig und sind „nur“ Nachahmer.

Ist der Großteil der türkischstämmigen Bevölkerung in Wien nationalistisch?

Man muss vor allem nach den Favoritenvorfällen aufpassen, nicht alles, was mit türkischem Nationalismus zu tun hat, zu verteufeln und auf der anderen Seite nicht alles kurdisch-nationalistische zu verklären. Diese Schwarz-Weiß-Sicht vereinfacht und verstellt den Blick. Die Dinge sind komplizierter. Das ist einem bei Dingen, die man kennt oft sehr bewusst. Nicht alle FPÖ-Wähler sind Rassisten oder Nazis wie es oft in der ausländischen Berichterstattung dargestellt wird. Es gibt innerhalb dieser Bewegungen Spektren. Dies ist wichtig zu wissen, wenn man Dialog ermöglichen und Extremismus entgegenwirken will. Meine persönliche Meinung zu der Debatte rund um den türkischen Jugendlichen, der in der Tatnacht einen Polizisten gerettet hat, ist: Ich kann nicht nachzuvollziehen, warum sich sie sich jetzt darum dreht, dass der Jugendliche von Präsident Erdogan angerufen wurde oder es Fotos von ihm mit Wolfsgruß gibt. Mir scheint der Fokus auf jene Person, die in dieser Nacht etwas Vorbildliches getan hat und die Problematisierung seiner Herkunft und seiner Facebook-Fotos als eine gezielte Ablenkung von dem, was wir eigentlich diskutieren sollten. Vielmehr sollte sich die Debatte jetzt auf den Täter und die Frage, wie er sich radikalisieren konnte und vor allem auf das Versagen der österreichischen Behörden richten.

Cengiz Günay, Türkei, Graue Wölfe

Dr. Cengiz Günay ist stellvertretender wissenschaftlicher Leiter des Österreichischen Instituts für internationale Politik (oiip) und Lektor am Institut für Politikwissenschaft, dem Institut für internationale Entwicklung sowie dem Institut für Orientalistik an der Universität Wien.

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