Die Leiden des jungen Todor

12. Juni 2014

Miro, der Brasilianer

Im Nachbarsblock des Sofioter Endviertels „Obelia“, wo ich aufgewachsen bin, lebte ein Brasilianer. Na ja, ein nicht ganz echter Brasilianer – eigentlich war Miro ein Rom. Da er aber ein unglaublich begabter Fußballspieler war und Einen bronzenen Teint hatte, nannten ihn alle „der Brasilianer“ oder kurz „Braso“. Braso stand in unseren Augen Garrincha und Romario in nichts nach. Er dribbelte magisch mit dem Ball um seine Gegenspieler herum. Als wir uns zum Fußballspielen in zwei Mannschaften aufteilten, wollte jeder mit Braso spielen. Auf dem Fußballfeld war Braso der Held. Außerhalb bemerkte ihn niemand. Braso ging längst nicht mehr zur Schule. Er arbeitete in einer Autowäscherei. Im Winter trug er Gummistiefel und im Sommer lief er meistens barfuß. Während er auf seine nächsten Kunden in der Autowäscherei wartete, jonglierte er mit dem Ball. Braso träumte einmal für die bulgarische Nationalmannschaft zu spielen. Eigentlich erfüllte er alle Voraussetzungen - er war unglaublich gut, er ging nicht zur Schule und hatte überhaupt keine Hemmungen. Er hatte sogar gelernt seine Gegenspieler zu bespucken. Damit versuchte er Stoichkov zu imitieren. Stoichkov war der Star der bulgarischen Nationalmannschaft.

 

Whiskey+Zigarre = Bulgarischer Fußballer

Kurz davor hatte die bulgarische Nationalmannshaft den vierten Platz bei einer WM erreicht. Die Fußballer waren die populärsten Menschen im Land. Ihr Erfolg hatte den Bürgern des armen, ausgeraubten Landes ein enormes Selbstbewusstsein gegeben. In den Fußballern sah jeder sein Vorbild. Sie waren ganz gewöhnliche Jungs, die die Weltspitze erreicht hatten. Damals besiegten die Bulgaren den amtierenden Weltmeister Deutschland und erreichten das Halbfinale. Alle können sich heute immer noch an die ZDF-Reportage vor dem Spiel erinnern, die die Bulgaren und die Deutschen vergleichen sollte. Die Deutschen bereiteten sich für das Spiel vor und übten verschiedene taktische Situationen. Die Bulgaren lagen vor dem Hotel beim Swimmingpool mit einem Glas Whiskey in der Hand und Zigarren im Mund. Die Bulgaren gewannen mit zwei zu eins.

Diese Reportage war das Ende von Braso. Mit dem wenig Geld, das er besaß, fing er an sich Zigarren zu kaufen. Außerdem fing er stark zu trinken an. Mit vierzehn war er Braso, der Star des Viertels. Mit sechszehn war er ein gewöhnlicher Säufer. Er konnte immer noch unglaublich gut mit dem Ball jonglieren.

 

Miro ist nicht mehr

Ich wurde älter. Ich verließ „Obelia“. Die bulgarischen Fußballhelden wurden zu Geschäftsmännern. Vor einem Jahr ging ich bei der Autowäscherei vorbei. Ich fragte nach Miro. „Der Brasilianer?“, antworteten sie, „Er ist schon längst in Brasilien!“ Ich konnte es kaum glauben. „Echt?“ Der Mann von der Autowäscherei deutete mit seinem Kopf auf den Friedhof, der auf der andren Seite der Straße ist. Das war „Brasilien“…

Ich erinnerte mich an diese Geschichte, als ich zusammen mit meiner lieben M. auf einer sonnigen Wiese in einem Wiener Park lag. „Wann fliegen wir nach Brasilien?“, fragte sie. „Nein“, sagte ich, „hier geht es uns auch ganz gut.“

Dieses Jahr qualifizierte sich Bulgarien nicht für die WM. Österreich auch nicht. Deshalb werde ich Bosnien anfeuern. Und an Miro den Brasilianer denken. Falls Bosnien das Halbfinale erreicht, kaufe ich mir sogar eine Zigarre. 

 

Foto: AHMED OUOBA / AFP / picturedesk.com

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