„Die Welt darf keinen zweiten Völkermord zulassen.“

06. Juli 2023

Im Schatten des Ukrainekrieges spitzt sich die Lage in Berg-Karabach weiter zu: Seit Dezember ist die umstrittene Region zwischen Armenien und Aserbaidschan blockiert. Weder Lebensmittel, noch humanitäre Hilfe kommt an. Ararat Mgdsian, der Wurzeln in Karabach hat, erzählt, wie es seinen Freunden und Familie vor Ort geht.


Von Nada El-Azar-Chekh

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Bei seinem letzten Armenienbesuch ließ sich Ararat in traditioneller ostarmenischer Tracht fotografieren. Seit 2017 lebt und studiert er in Wien. ©Sergey Akopyan

 

„Es gibt einen großen Doppelstandard in Europa: Man kauft kein Gas mehr aus Russland, weil es im Krieg mit der Ukraine ist. Jedoch hat man kein Problem damit, stattdessen Gas-Deals mit Aserbaidschan abzuschließen und verschließt die Augen vor der existenziellen Krise in Berg-Karabach“, sagt Ararat Mgdsian. Der 24-Jährige lebt seit 2017 in Österreich und hat Verwandte und Freunde in jener Region, um die sich die Nachbarstaaten Armenien und Aserbaidschan in einem langen Konflikt befinden.
Seit mehr als 200 Tagen ist der Latschin-Korridor von aserbaidschanischen Truppen besetzt.  Er ist einzige Verbindung zwischen der autonomen Republik Arzach, die seit 1991 in der Region Berg-Karabach unabhängig ist, und Armenien. Über 130.000 Menschen – davon etwa 30.000 Kinder – haben seit Dezember keinen Zugang zu Medikamenten, Lebensmitteln oder humanitärer Hilfe. Die Blockade begann als Protest von aserbaidschanischen Öko-Aktivisten gegen angeblich illegale Bergbauarbeiten am Latschin-Korridor. Zu einem weiteren Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien kam es zuletzt im Jahr 2020, bei dem tausende Menschen starben. Damals griff Russland als alte Schutzmacht Armeniens ein und vereinbarte einen Waffenstillstand. Doch vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs ist nicht nur die westliche Berichterstattung, sondern auch das Engagement für Berg-Karabach deutlich abgeflacht.

15 Tage Strom im Monat

„Ich verbrachte Weihnachten in der Hauptstadt Jerewan und wollte eigentlich zu meiner Verwandtschaft nach Berg-Karabach fahren. Der Besuch kam doch nicht zustande – zu meinem Glück, denn sonst wäre auch ich in der Blockade gefangen“, erzählt Ararat, der BWL an der WU studiert. Einige seiner engen Freunde sind vor Ort in der Enklave. Sie berichten, dass seit Dezember die Kinder in der Region die Schule nicht besuchen können. Strom gäbe es nur 15 Tage im Monat, ohne Vorwarnung. „Wenn es gerade keinen Strom und kein Internet dort gibt, können wir keinen Kontakt aufnehmen.“ Einer von Ararats Freunden ist Arzt. „Die Situation dort ist sehr schwer, da die wenigen Krankenhäuser in der Region schlecht ausgestattet sind. Alte und kranke Menschen, sowie Schwangere müssten nach Armenien fahren, um ausreichend betreut zu werden. Sollten sie das Gebiet jedoch verlassen, kommen sie nie mehr zurück zu ihren Häusern.“ Der Alltag in Berg-Karabach gestaltet sich schwer, wie Ararat von seinen Kontakten vor Ort erfahren hat. „Bereits nach dem ersten Monat der Blockade wurden Lebensmittel knapp. Deshalb hat sich die Karabach-Regierung dazu entschlossen, Produkte zu rationieren. Für eine vierköpfige Familie gibt es nur 100 Gramm Brot. Jetzt im Sommer wird Obst und Gemüse von der Bevölkerung eingekocht für den Winter.“ 

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Russland hat als Vermittler und Akteur Einfluss im Konflikt um Berg-Karabach.

Großtürkische Fantasien

Während Menschenrechtsorganisationen Alarm schlagen, verschärft sich der Ton seitens der aserbaidschanischen Regierung immer weiter. Die Idee vom „Großen Turan“, also einem politischen und kulturellen Zusammenschluss der turksprachigen Länder wie Aserbaidschan, Kirgistan, Turkmenistan und Usbekistan im Kaukasus wird auch vom türkischen Präsidenten Erdogan immer weiter vorangetrieben. Die Region Berg-Karabach, die eine ethnisch armenische Bevölkerung hat, sich aber laut UN völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehöre, spielt geopolitisch eine entscheidende Rolle. Ararat findet, dass die Welt nicht weiter tatenlos zusehen darf. Er vergleicht die aktuelle Blockade Berg-Karabachs mit der Situation vor dem osmanischen Genozid an der armenischen Bevölkerung im Jahr 1915. Gemeinsam mit 30 anderen Ländern, erkannte Österreich den Genozid an den Armeniern offiziell an. „Die Menschen werden wieder vor die Wahl gestellt, entweder ein Teil von Aserbaidschan zu werden, oder zu sterben“, so der BWL-Student. Armenien befände sich, als demokratisch und westlich-orientiertes Land umrandet von diktatorischen, antiwestlichen Staaten. „Die Welt darf keinen zweiten Völkermord zulassen“, sagt Ararat. Schon seine Vorfahren mussten vor 100 Jahren vor dem Genozid nach Vanadzor im Osten von Armenien fliehen. Ich möchte nicht, dass meine Freunde oder meine zukünftigen Kinder dasselbe erleben. 

 

Info:

Worum geht es bei dem Konflikt um Berg-Karabach?

Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach besteht aus einem langjährigen territorialen Streit um die Region Bergkarabach. Beide Länder beanspruchen das Gebiet, das zu sowjetischen Zeiten zu Aserbaidschan gehörte, aber überwiegend von ethnischen Armeniern bewohnt wird. Der Konflikt eskalierte 2020 in einen weiteren Krieg, bei dem fast 4.000 Menschen starben und viele vertrieben wurden. Im November 2020 wurde eine Waffenruhe vereinbart, aber die Spannungen bleiben bestehen und eine dauerhafte Lösung ist noch nicht gefunden.

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