„Es nimmt die Menschen unnötig in eine Krise mit, die sie nicht verursacht haben.“

06. Dezember 2019

Hakan Gördü ist Vorsitzender der Liste SÖZ („Soziales Österreich der Zukunft“), mit der er bei der Wien-Wahl 2020 in den Gemeinderat ziehen will. Wir sprachen mit ihm über den kurdisch-türkischen Konflikt in Nordsyrien.

Von Nada El-Azar

BIBER: Inwieweit hat der Konflikt in Nordsyrien das Zusammenleben von Türken und Kurden in Österreich verändert?

HAKAN GÖRDÜ: Es gab auf beiden Seiten Demonstrationen, wobei die türkischen sich sehr in Zaum gehalten haben. Es gab lediglich ein paar vereinzelte, privatinitiierte Demos, die von PKK-Anhängern medial stark aufgeblasen wurden. Viele Menschen haben aus den Ereignissen der letzten Jahre eine Lehre gezogen: Ausländische Konflikte sollten nicht nach Österreich getragen werden. Gewisse Akteure versuchen einen Krieg nach Österreich zu tragen und hier lebende TürkInnen und KurdInnen dafür verantwortlich zu machen, was die türkische Regierung unternimmt. Das Syrienthema ist nicht wichtiger als beispielsweise die Thematik der Siedlergebiete im Westjordanland. JüdInnen in Österreich sind dafür genauso wenig verantwortlich wie ÖsterreicherInnen aus China für die Menschenrechtsverletzungen gegen Uiguren derzeit in Xin Jiang. Sollen deshalb ChinesInnen hierzulande dafür zu Verantwortung gezogen werden? Das passt einfach nicht. Es nimmt die Menschen unnötig in eine Krise mit, die sie nicht verursacht haben. Das ist etwas was in Österreich unsere demokratische Entwicklung hemmt, es bilden sich neue Fronten, die wir hier nicht benötigen.

Haben Sie kurdische Freunde? Wie denken sie über die aktuelle Lage?

Ja, viele Freunde sogar, die verschiedener Ansichten sind. Die einen sehen in der YPG die demokratischste Bewegung, die endlich einen Ruhepol schaffen könnte gegen die Gräueltaten, die in Nordsyrien gerade passieren. Das ist ihre Sicht. Auf der anderen Seite habe ich kurdische Freunde, die die YPG als Unterdrücker sehen. Es gibt das ganze Spektrum, auch von links bis rechts. Es gibt Kurden, die konservativ sind, sowie jene, die links angesiedelt sind und die stark PKK/YPG verurteilen. Das ist eine höchst heterogene Gruppe, in der sehr wohl auch die Position der Türkei viele Anhänger findet. Es wird aber nur eine Wahrnehmung als „kurdisch“ identifiziert und das ist diejenige der PKK/YPG ist. Das finde ich höchst problematisch.

Hakan Gördü
SÖZ-Vorsitzender Hakan Gördü im Interview. (C)Soza Jan

Stimmt es, dass viele Kurden in der Türkei Erdogan wählen? Wie kann man dieses Phänomen verstehen?

Erdogan polemisiert nur gegen die Kurden, die die PKK und die YPG unterstützen. Es gibt in der Türkei den Narrativ: Türken und Kurden sind Brüder, die durch „Mächte“ gespalten werden. 90 Prozent der Kurden sind sunnitische Muslime und gerade die aus dem ländlichen Raum, aus Anatolien, sind konservative SunnitInnen. Die PKK hingegen ist eine marxistische, autokratische und daher atheistische Terror-Organisation. Daher können viele Kurden mit ihr nicht viel anfangen. Ein weiterer Grund ist natürlich, dass viele Kurden egal welcher ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit, Gewalt als kontraproduktiv ansehen und sich auch aus diesem Grund von der PKK distanzieren. Dass alle alevitischen Kurden PKK-Anhänger sind stimmt so auch nicht, denn wiederum viele zählen sich zu den Kemalisten oder anderen ideologischen Gruppierungen in der Türkei. Ich habe letztes Jahr in einem Café einen Kurden getroffen, der mir als Leitfaden „Nutuk“, das Stammwerk Mustafa Kemal Atatürks, empfohlen hat.  Es ist nicht Schwarz-Weiß: „Kurden gegen Türken“ ist nicht die Realität. Konservative Kurden solidarisieren sich mit Erdogan, weil er sich in seinem Werdegang nicht nationalistisch-türkisch, sondern stark muslimisch-positioniert hat. Der Islam war somit der gemeinsame Nenner um Ethnien-übergreifend Wähler zu gewinnen. Vor allem in den letzten Präsidentschaftswahlen und im letzten Referendum haben die kurdischen WählerInnen Erdogan vor einer Niederlage gerettet, sozusagen. Wichtig ist zu wissen, dass es Fanatiker auf allen Seiten gibt, die dem Zusammenleben in der Türkei aber auch in Europa schaden können.

Verstehen Sie den Wunsch der Kurden in Rojava nach einem eigenen Gebiet?

Natürlich kann ich das verstehen. Jedes Volk hat ein Recht auf Autonomie und auf Selbstverwaltung. Allerdings denke ich nicht, dass eine gewalttätige autokratische Organisation, wie die PKK diesen Vertretungsanspruch haben darf. Weil sie eben eine Organisation sind, die ihr Personal sehr stark durch Entführungen und Erpressungen akquiriert.  Viele KurdInnen leiden stark darunter, siehe die Mütter in Diyarbakir die vor dem HDP Parteigebäude ihre Kinder zurückverlangen. Für diese KurdInnen hängt die Organisation YPG, die eine starke Verbindung zur PKK hat, mit einer sehr schrecklichen Vergangenheit in der Türkei mit 40.000 Toten zusammen. Dass es da keine Empathie gibt, ist legitim. Die YPG mag zwar gegen den IS gekämpft haben – haben aber andere Terrororganisationen auch. Meine Position ist, dass kein Staat, und kein Konstrukt mehr wert ist, als ein Menschenleben. Ich fürchte aber, dass es in absehbarer Zeit keine Lösung geben wird. Mein Wunsch wäre, dass die Kurden sehr wohl autonom in ihren Gebieten sind. Das bedeutet allerdings keine Spaltung der souveränen Türkei, Vorraussetzung dafür ist jedoch, dass sich KurdInnen gegen die PKK emanzipieren und für sich selber sprechen können, ohne dogmatisch an einer marginalen stalinistischen Bewegung zu hängen. KurdInnen sind gefordert eine neue Philosophie für sich zu finden, um ein konstruktives Zusammenleben in der Türkei zu verwirklichen. So wie Menschen Erdogan, oder eben anderen starken Führern nahestehen, ist es für viele Kurden der „unauswechselbare“ Öcalan, der zurzeit inhaftiert ist – und für viele andere eben nicht. Das sind alte Schubladen, die die neue Generation meiner Meinung nach durchbrechen sollte.

 

Wichtige Richtigstellung der biber Redaktion:
In unserer Dezemberausgabe 2019 erschien eine stark gekürzte Version dieses Interviews, in dem Hakan Gördü leider falsch zitiert wurde. Hiermit widerrufen wir folgenden Satz: "Mein Wunsch ist, dass die Kurden autonom in ihren Gebieten sein können, unabhängig davon, ob sie einer militanten Organisation untergeordnet sind, oder nicht." Dies entsprach nicht den Aussagen Herrn Gördüs im Interview. Richtig soll es heißen: "Mein Wunsch wäre, dass die Kurden sehr wohl autonom in ihren Gebieten sind. Das bedeutet allerdings keine Spaltung der souveränen Türkei, Voraussetzung dafür ist jedoch, dass sich KurdInnen gegen die PKK emanzipieren und für sich selber sprechen können, ohne dogmatisch an einer marginalen stalinistischen Bewegung zu hängen." Wir entschuldigen uns für diesen Fehler.

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