Gastkommentar einer NMS-Lehrerin: Wir brauchen zeitgemäße Schulbücher!

19. September 2022

Nach AutorInnen mit Migrationshintergrund sucht man in ihrer Schulbibliothek vergebens. Die Wiener NMS-Lehrerin Hanna Frischenschlager (29) verweist auf die mangelnde Diversität im schulischen Literaturangebot, mit der viele ihrer migrantischen SchülerInnen nichts anfangen können. Ein Gastkommentar.


"Einige Leser werden sich unter einem Sklavenlager etwas Grauenvolles vorstellen. Aber nein! Die menschliche Ware ist wertvoll, und daher wird sie gut genährt, gesäubert und gepflegt.  (Dort herrscht) gedankenlose Fröhlichkeit.“ Wer das Buch Onkel Toms Hütte von Harriet Beecher Stowe (erschienen 1852) liest, lernt dabei, dass viele versklavte Afro-amerikaner*innen im 19. Jahrhundert ein „ganz glückliches“ Familienleben führten, weil sie von ihren „gütigen Herren“ liebevoll behandelt wurden. Die Sklaverei ermöglichte ihnen außerdem ein feines Leben in den schönen Villen ihrer Sklavenhalter, das sie sich „sonst nicht leisten (hätten) können“.

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NMS-Lehrerin Hanna Frischenschlager

Solche Texte würde man vielleicht in einem Museum erwarten, aber nicht in einer Schule. Wer durch die Bücher meiner Schulbibliothek blättert, findet Wörter wie „Mischling“,  „Kreatur, „N*ger“, „Rassenprobleme“ oder „Teufelsleute“ bezogen auf PoC. In der Debatte über die Winnetou-Bücher von Ravensburger hat sich im Sommer wieder gezeigt, dass viele (auch die meisten meiner Kolleg*innen) eine solche Sprache in Kinder- und Jugendbüchern nicht für problematisch halten. Im Gegenteil: Kritik an rassistischen Begriffen und Stereotypen wird als gefährliche Zensur und als Cancel Culture geframt. Florian Klenk, Chefredakteur des Falter, meint, man müsse Kindern einfach kontextbezogenes Lesen beibringen.

NIcht jeder hat Akademikereltern

Der Ansatz ist löblich, nur hat nicht jedes Kind einen Akademikervater zu Hause, der den Kontext der Sklaverei in den USA im 19. Jahrhundert erklären kann. Und so gerne ich als Geschichtslehrerin mit meinen Schüler*innen diesen historischen Kontext erarbeiten würde, so fehlen uns Lehrer*innen für derartig vertiefende Inhalte leider meist die Ressourcen. Oft sind Schüler*innen also mit solchen Texten alleingelassen und verlassen sich dabei darauf, dass das, was in ihren Büchern aus der Schule steht, richtig und aktuell ist.

90% meiner Schüler*innen haben Migrationshintergrund. Die Bücher, die sie in ihrer Schulbibliothek vorfinden sind ausschließlich deutsch (es gibt kein einziges Buch auf Englisch oder in einer der vielen Erstsprachen der Kinder). Auch nach Büchern von Autor*innen mit Migrationshintergrund sucht man vergeblich: Als ich die zuständige Kollegin darauf ansprach, fragte sie mich: „Gibt es sowas überhaupt?“. Der Großteil der Bücher in der Bibliothek sind zwischen 1950 und 1990 erschienen, also mindestens zwei Jahrzehnte bevor meine Schüler*innen überhaupt geboren wurden. Wirklich konsequent aussortiert wurden in den letzen Jahrzehnten nur Bücher mit nationalsozialistischen Inhalten. Niemald würde mehr von einem jüdischen Kind verlangen, dass es in der Schule Bücher liest, in denen Konzentrationslager als harmlose Orte beschrieben werden. PoC-Schüler*innen muten wir diese Erfahrung jedoch sehr wohl immer wieder zu.

Veraltete Bücher, veraltete Ansichten

Dass die Bücher derart veraltet sind, bedeutet für Schüler*innen allerdings nicht nur, dass sie darin immer wieder mit erniedrigenden Ausdrücken und Stereotypen konfrontiert werden. Alleine schon die veraltete Rechtschreibung und die überholten politischen, kulturellen und geographischen Referenzen machen es ihnen schwer, die Bücher überhaupt zu lesen und zu verstehen. (Was ist zum Beispiel mit „Steno“ gemeint? Oder warum ist plötzlich die Rede von einem „zweiten Zug“ in der Schule?)

Dass ich studieren konnte und heute als Lehrerin arbeiten darf, liegt nicht zuletzt daran, dass ich während meiner Schulzeit jahrelang Zugang zu vielen faszinierenden Jugendbüchern hatte und diese leidenschaftlich gern gelesen habe. Lesen ist die Grundlage für das erfolgreiche Erlernen einer Sprache und gute Sprachkenntnisse sind wiederum die Grundlage für den Erfolg in allen weiteren Gegenständen in der Schule (bzw. später in allen Ausbildungswegen und Studienrichtungen). Schüler*innen keinen Zugang zu guten und zeitgemäßen Jugendbüchern zu ermöglichen, heißt also auch, ihr Recht auf Bildung zu verletzen. Das betrifft insbesondere Mittelschulen in österreichischen Städten (an AHS-, Privat- und Landesschulen sieht die Ausstattung mitunter ganz anders aus). Bevor man also die mangelnden Deutschkenntnisse oder die geringe Konzentrationsspanne von Schüler*innen beklagt, sollten wir einen sehr genauen Blick in die Bibliotheken unserer Schulen werfen und ein attraktives und modernes Leseangebot für Kinder und Jugendliche schaffen.

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