"Man sollte Integration nicht erwarten, sondern ermöglichen."

02. September 2020

Selma Arapović tritt für die NEOS bei der Wien-Wahl im Oktober an. Die Architektin spricht mit biber über unser Bildungssystem, die Stadtentwicklung und ihr Bosnien in Wien. 

Von Anna Jandrisevits, Fotos: Eugénie Sophie

Selma Arapović
© Eugénie Sophie

biber: Sie sind 1992 als Flüchtling nach Österreich gekommen. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit? 

Selma Arapović: Ich bin in Viségrad geboren und habe dort die ersten 15 Jahre meines Lebens verbracht. Als 1992 der Krieg in Bosnien begann, bin ich mit meiner Familie nach Österreich geflüchtet. Wir sind nach Lohnsburg in Oberösterreich gezogen. Meine Volksschule und Hauptschule hatte ich in Bosnien abgeschlossen, deshalb war es nicht einfach, einen Schulplatz zu finden. Die Schulen suchten LehrerInnen mit Migrationshintergrund, die den Flüchtlingskindern Deutsch beibringen konnten. Ich habe bei den Übersetzungen geholfen und dadurch den Bezirksschulinspektor kennengelernt. Der fragte mich, was ich im Herbst machen würde und ich hatte keine Antwort. Er schickte mich zum Schuldirektor des BORG und meinte, man sollte mich als außerordentliche Schülerin aufnehmen. Wenn der Inspektor das sagt, nehme ich dich auf, meinte der Direktor. Aber er sagte mir auch, dass er sich nicht vorstellen kann, wie ich das schaffen soll. Im Endeffekt habe ich es geschafft und nach 5 Jahren mit Auszeichnung maturiert. Dieser Einstieg war aber keine Selbstverständlichkeit. 

Was ist nach der Matura passiert?

Ich ging nach Graz, um Architektur zu studieren. Das war eine schöne Zeit, in der ich mich selbst wiederfinden konnte und mein Selbstwertgefühl neu entdeckte. Das ist durch den Krieg und die Flucht verloren gegangen. Durch Erasmus hatte ich auch die Möglichkeit, ein Jahr lang in Barcelona zu studieren. Nach dem Studium bin ich mit meinem jetzigen Mann nach Wien gekommen. Graz war nach Barcelona dann doch zu klein (lacht). 

Nun sind Sie Architektin in einem Architekturbüro im 2. Bezirk. Was hat Sie in die Politik gebracht?

Es war nie mein Plan, in die Politik zu gehen. Aber als Architektin ist man immer politisch. Man setzt sich mit dem Leben, dem Umfeld und der Gesellschaft auseinander. Als ich 2013 nach einem Jahr in Dubai mit meiner Familie nach Wien zurückkehrte, war gerade Nationalratswahlkampf. Damals ist mir aufgefallen, wie das Wort „Migrationshintergrund“ für alle Missstände, die es in der Gesellschaft gab, verwendet wurde. Ob in der Bildung, in der Gesundheit oder beim sozialen Wohnbau. Ich fand das so ungerecht. Vor allem den Kindern gegenüber, um die es in der Diskussion oft ging. Sie wurden pauschalisiert. Mir hat die Ermächtigung durch Bildung und Chancengleichheit in der Politik und dem politischen Diskurs gefehlt. Und die NEOS haben genau das angesprochen. Als ich sie 2013 gewählt habe, war das so ein gutes Gefühl. Eine Partei zu unterstützen, die die richtigen Dinge anspricht, auf die richtige Art und Weise. 2014 habe ich ihnen geschrieben, dass ich sie noch mehr unterstützen will. Seit 2015 bin ich Bezirksrätin und seit zwei Jahren Klubvorsitzende. 

Wieso wollen Sie bei der Wien-Wahl kandidieren?

Aus mehreren Gründen. Vor allem, weil es mehr Frauenstimmen in der Politik braucht. Und diese Frauenstimmen müssen divers sein. Wir sollten uns zu Themen äußern, die divers sind. Zu Themen wie Integration und Bildung, aber auch zu Themen wie der Wirtschaft oder dem Städte- und Wohnbau. Meine Expertise in diesem Bereich hat mich bewogen, für die NEOS anzutreten. 

Wenn Sie sich auf drei politische Themen fokussieren müssten, welche wären das?

Das wären Stadtentwicklung, Wohnbau und Frauen. Das sind meine Herzensthemen und da liegen meine Kompetenzen. Wir sind seit 2015 im Bezirksparlament und setzen uns für Themen ein, die kein Gehör und keinen Anklang finden. Wie wollen wir etwa öffentliche Räume gestalten und was sollen diese öffentlichen Räume bieten? Wir brauchen mehr Aufenthaltsqualität für die AnrainerInnen im 2. Bezirk. Mein Anliegen ist es, den Raum vor der Wohnungstür besser und sicher zu gestalten. Als 75-jährige Frau habe ich zum Beispiel nichts davon, wenn der Augarten in 500 Meter Entfernung liegt. Ich muss diese 500 Meter erst einmal überwinden. Da gibt es viel Potential, man könnte etwa die breiten Gehsteige anders gestalten. 

Da sind Sie als Architektin wahrscheinlich die beste Ansprechpartnerin. 

Ja, wenn nur jemand auf mich hören würde! (lacht)

Warum ist Ihnen das Thema Frauen so wichtig? 

Ich bin Feministin. Ich finde, dass es in jeder Ebene und bei allen Entscheidungsträgern, ob in der Wirtschaft, Politik oder Gesellschaft, mehr Frauen braucht. Diesen Ansatz müssen wir schon früh vermitteln und bereits Mädchen in Schulen zeigen. Genauso zählt es, ältere Frauen bei ihren Träumen und Rechten zu unterstützen. Und sie zu ermächtigen, wieder ein Selbstwertgefühl zu entwickeln. Auch Politik wird noch immer von Männern dominiert. Bildung ist für die NEOS ein wichtiges Thema, aber Frauen sollten sich in der Politik nicht nur zu Bildungs- und Familienthemen äußern, sondern zu allen Themen. 

Was bedeutet Integration für Sie?

Integration hat einen sehr hohen Stellenwert in meiner politischen Tätigkeit. Ich halte nichts davon, zu sagen, dass Integration in Wien nicht funktioniert. Man sollte Integration nicht erwarten, sondern ermöglichen. Es gibt genug Mittel und Wege! Da kommt es auch auf das Umfeld an, das die Integration erleichtert. Die Menschen sollten offen für Integration sein. Es ist mir auch wichtig, den Rassismus und Rechtsextremismus in unserer Gesellschaft aufzuzeigen. Wir müssen immer wieder dagegen aufstehen, unsere Stimmen erheben und uns das nicht gefallen lassen. Das ist ein großer und wichtiger Schritt.

In der Vergangenheit wurde vermehrt im negativen Kontext über die Mehrsprachigkeit von Kindern gesprochen. Wie sehen Sie das?

Ich finde das absolut nicht negativ. Im Gegenteil, ich finde es ganz wichtig. Emotionen werden durch Sprache vermittelt. Wenn zuhause eine Fremdsprache gesprochen wird, die die Eltern nicht fühlen, gehen viele Emotionen verloren. Für den Erwerb weiterer Sprachen ist diese Emotionalität in der Sprache irrsinnig wichtig. Ich finde es schade, wenn zuhause nicht die Muttersprache gesprochen wird. Aber jedem ist es freigestellt, die Sprache zu sprechen, die er möchte.

Warum ist die BKS-Community in der Politik noch immer unterrepräsentiert?

Man muss sich in der Politik hocharbeiten. Man muss Leute kennen, man braucht viele UnterstützerInnen und es ist grundsätzlich ein sehr langer Weg, bis man etwas erreichen kann. Ich glaube, diesen Weg einzuschlagen, ist für viele momentan gar keine Option. Dabei ist es wichtig, dass die Menschen aus dieser Community auch in der Politik vertreten sind. Wir brauchen etwas, das uns verbindet. 

Was wünschen Sie sich für Wien?

Ich wünsche mir ein Bildungssystem, das alle Kinder abholt. 4 von 10 SchülerInnen können nach dem Abschluss der Hauptschule nicht sinnerfassend lesen. Ich bin für mehr Ganztagsschulen und für mehr als ein verpflichtendes Kindergartenjahr für Kindergartenkinder. Wir fordern es seit Jahren: mehr SozialarbeiterInnen und PädagogInnen an den Schulen. Die LehrerInnen werden mit all den Problemen, die die Kinder in die Schule mittragen, alleine gelassen. Und dann sollen sie ihnen auch noch den Stoff beibringen. Was etwa Melisa Erkurt in ihrem Buch „Generation Haram“ beschrieben hat, ist so wichtig. Diese Sichtweise hat gefehlt. Und das ist eigentlich genau das, was mich dazu bewegt hat, in die Politik zu gehen. Oft wird über diese Kinder geurteilt, obwohl sie absolut nichts dafür können. Sie können nichts dafür, dass sie von zuhause keine Unterstützung bekommen. Sie können nichts dafür, dass ihre Eltern entschieden haben, aus ihrer Heimat zu flüchten. Aus guten Gründen! Bei dieser Entscheidung ging es letztendlich auch um ihre Kinder. Je nachdem, wie viele Kinder mit Migrationshintergrund an einer Schule sind, wird die Schule als Brennpunktschule abgestempelt. Letztendlich wird ihnen nicht geholfen, dabei brauchen sie einfach mehr Unterstützung. Wir wollen, dass sich diese Kinder wohl und sicher fühlen, und als Teil dieser Gesellschaft, damit sie auch ihren Teil beitragen können. 

Waren Sie heuer in Bosnien?

Nein. Meine Schwiegereltern leben in Bosnien und wir besuchen sie eigentlich jedes Jahr. Es war schwierig, heuer nicht runter zu fahren, vor allem weil meine Schwiegermutter krank ist. Das war vor allem für die Kinder nicht einfach. Und auch ich verbinde mit Bosnien ja meine Kindheit. 

Wenn Sie in Wien ein Stück Bosnien erleben wollen, wo gehen Sie hin?

Dann gehe ich mit meiner Familie Cevape essen in der Mariahilferstraße oder Pita essen im Pitawerk. Wir haben viele Freunde, die auch von unten sind, mit denen wir uns regelmäßig treffen. Dann haben wir unser Bosnien auch in Wien.

 

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