"Mein Sohn, was haben die Europäer mit dir gemacht?"

09. September 2021

Auf Arabisch gibt es einen Spruch, der besagt: Wenn man sich bei einem Stamm vierzig Tage aufhält, wird man einer von ihnen. Damit ist gemeint, dass man seine Sitten und Gebräuche übernimmt. Nach sieben Jahren in Österreich kann ich nicht genau sagen, welche Aspekte ich von dem „österreichischen“ Lebensstil verinnerlicht habe. Ich glaube aber, dass sein Einfluss auf mich inzwischen sehr groß ist. Ich gehe mittlerweile wandern und das mache ich freiwillig und gerne. Falls Sie sich jetzt fragen, was daran so bemerkenswert sei, würde ich Sie bitten, einmal kurz innezuhalten: Das erste Mal, als ich meiner Mutter vom Wandern erzählte, verstand sie das einfach nicht. „Mein Sohn! Bist du bekloppt? Was haben die Europäer mit dir gemacht?“, wurde sie laut und verständnislos am Handy. Ich fand auch kein arabisches Wort für ‘wandern’ oder ‚Wanderlust‘, um ihr das zu erklären. Bei uns geht, läuft, spaziert oder bummelt man, aber wandern, nein, das tut sich niemand an. In der Freizeit will man in einer schattigen, kühlen Ecke mit seiner Liebsten sitzen, Sonnenblumenkerne knabbern, Mokka und Matetee trinken, sich gegenseitig Geschichten erzählen, die bei jeder erneuten Erzählung mehr an Gewürzen und Spektakeln bekommen. Auf den Berg zu gehen ist viel zu heiß und anstrengend. Außerdem prangen auf den Bergspitzen in Syrien keine Gipfelkreuze, sondern Militärbasen, und man läuft dort Gefahr, erschossen zu werden. Meine erste Wandererfahrung wurde mir aufgezwungen. Es war ein Betriebsausflug meiner ehemaligen Arbeitsstätte auf den Gaisberg. 

 

Wieso habt ihr für alles andere Schuhe?

 

Oggi, mein damaliger Arbeitskollege, meinte, ich bräuchte Wanderschuhe. Ich verstand nicht, was er von mir wollte. Dabei stellte ich fest, dass jede Tätigkeit in Österreich eine eigene Schuhkategorie benötigt. In Syrien kennt man nur Sportschuhe und formelle Schuhe. Und das war es dann. Jetzt in Österreich habe ich Laufschuhe, Freizeitschuhe, Wanderschuhe, Skischuhe, Fußballschuhe, Hallenschuhe, Fahrradschuhe, Eislaufschuhe, Winterschuhe, formelle Schuhe, und ich bezeichne mich als Kleinverdiener. Vermutlich gibt es Schuhe, deren Namen ich gar nicht kenne.  

Mittlerweile liebe ich wandern. Ich gehe am liebsten ganz alleine, und zwar immer auf denselben Berg. Ich weiß nicht, warum ich immer dieselbe Wanderstrecke nehme und für andere Wege nicht aufgeschlossen bin. Ich bemühe mich, auf diesem Wanderweg jedes einzige Detail der Gegend in mein Unterbewusstsein einzuprägen, jeden Baum, jeden gebrochenen Ast und jeden Stein. Ich habe mir schon gemerkt, um viel Uhr die Sonne an einer bestimmten Neigung steht und durch den ganzen Wald strahlt und alle Blätter beleuchtet. Wahrscheinlich ist das der Versuch, um dieses eine Gefühl wieder erleben zu können: Heimat. Ich habe mit dem Berg und dem Wald, durch den ich immer gehe, eine Freundschaft auf Augenhöhe geschlossen. Ich kenne jeden einzelnen Baum, und sie kennen mich inzwischen gut.  Ich kann mich beim Wandern ohne Wenn und Aber diesem Wald und diesem Berg zugehörig fühlen. Ich musste gar nicht beweisen, dass ich nicht schlimm wie meinesgleichen bin, auch keine Leistung erbringen, um willkommen zu sein. Ich rede mit ihnen sogar auf Arabisch und sie verstehen mich. Meine Anwesenheit, meine Gedanken, meine Sprache, meine Emotionen und Gefühle und meine ganze Existenz wirken für den Wald und den Berg selbstverständlich und vorbehaltlos. Wenn mir auf dem Weg neue Gesichter begegnen, fühle ich mich sogar wie der Einheimische und empfinde sie als die Fremden. Wobei ich nicht glauben will, dass ein Mensch in der Natur fremd sein kann. 

 

Jad Turjman ist Buch-Autor, Comedian und Flüchtling aus Syrien. In seiner Kolumne schreibt er über sein Leben in Österreich.

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