SREBRENICA: Vergraben und verscharrt, aber nicht vermisst

06. Juli 2023

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Foto: Zoe Opratko

Von Dennis Miskić

Ich verrichtete letztes Jahr meinen Auslandsgedenkdienst in Srebrenica, ich lebte also über mehrere Monate vor Ort, die Stadt war nichts Fremdes mehr für mich. Der 11. Juli, der Gedenktag für die Opfer des Genozids von Srebrenica,  war ganz anders: Ich war es nicht gewohnt, so viele Menschen und eine so belebte Stadt zu sehen. Ich hatte mich zu sehr an den Anblick von leeren Parkplätzen und geschlossenen Gasthäusern gewöhnt. Ich hatte mich an eine gewisse Ruhe gewöhnt. Eine gewisse Ruhe, die an einem Ort wie Srebrenica herrscht. Ein Ort, der zuerst belagert, bombardiert und systematisch ausgehungert wurde. Nur, um die Menschen darin danach unter UN-Schutz fast völlig zu vertreiben oder zu ermorden. Ein Ort, wie so viele andere in Bosnien und Herzegowina, den die serbisch-nationalistische Elite am liebsten dem Erdboden gleichgemacht hätte.

 Während der kalten, trüben und vor allem einsamen Wintertage in Srebrenica habe ich mich auch gefragt, ob sie das nicht auf eine gewisse Art auch geschafft hat. Nach dem Genozid gibt es kaum noch jemanden, der dort lebt. Wer hat denn schon die Kraft, an den Ort zurückzukehren, an dem man seine Familie das letzte Mal gesehen hat?

Für dieses Jahr hat sich die Gedenkstätte dazu entschieden, den Schwerpunkt der Gedenkwoche auf die noch vermissten Personen zu legen. Denn von den mindestens 8372 Ermordeten wurden mehr als 1000 noch nicht beigesetzt. Ihre Körperteile, oft auch einzelne Knochen, werden noch gesucht und einzelnen Ermordeten zugeordnet – jedes Jahr werden so identifizierte Opfer zum Gedenktag begraben. Die meisten Getöteten wurden kurz vor Kriegsende exhumiert und über das ganze Land verstreut in weiteren Massengräbern deponiert. Ein panischer und feiger Versuch das gesamte Ausmaß des Verbrechens zu verschleiern.

 

Die hoffnung ist gestorben

Bis heute werden in den Wäldern Knochen oder Leichenteile gefunden. So passiert es, dass Mütter die Körperteile ihrer Söhne in drei verschiedenen Massengräbern finden. Andere Mütter gehen durch das Leben mit nur einem Wunsch: ihren Sohn zu finden und zu begraben. Viele von ihnen sind gestorben, bevor ihnen dieser Wunsch erfüllt wurde.

 Aber diese Menschen sind für mich nicht vermisst. Das waren sie vielleicht kurz nach Kriegsende, als man sie für vermisst hielt. Aber kann man heute, 30 Jahre nach Kriegsende, noch von „vermissten Personen“ sprechen? Ja, sie werden von ihren Allerliebsten vermisst. Aber die Hoffnung, sie noch lebend aufzufinden, ist gestorben. Genau wie sie. Sie sind viel eher vergraben, verscharrt und versteckt. ●

 

Kolumnist Dennis Miskić hat seinen Auslandsdienst in ­Srebrenica geleistet und engagiert sich in verschiedenen NGOs zum Thema Westbalkan und Migrationspolitik. In seiner Kolumne hält er euch über Politisches & Kulturelles vom Balkan am Laufenden.

 

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