Taliban, das Beste für Afghanistan?

09. September 2021

Die Taliban sind auf dem Vormarsch – auch in Wien. Unser afghanischer Praktikant Mohibullah Nazari stellt schockiert fest, dass einige seiner Landsleute kein Problem mit den Gotteskriegern haben. Wie konnte es soweit kommen?

Von Mohibullah Nazari und Amar Rajković, Illustrationen: Aliaa Abou Khaddour

"Ich mag die Taliban. Sie sind besser als die alte Regierung. Unter ihnen wird es zumindest keine Anschläge geben.“ Hat er das wirklich gesagt? Der junge Mann mit Bart und gegeltem Haar, dem ich zufällig am Brunnenmarkt begegnet bin, unterstützt die Taliban? Diese ehrenlosen Verbrecher, die mein Heimatland ins Mittelalter stürzen wollen? Die Ta l i b a n ? Noch immer verdutzt darüber, wie ein in Freiheit lebender Mensch so denken kann, verliere ich die Kontrolle über meine Emotionen. Ich brülle ihn auf Farsi nieder und fordere ihn in Herbert-Kickl-Manier auf, doch zu den Taliban zurückzukehren, wenn sie angeblich so super sind. Was macht er noch in Österreich? Ich merke, dass er sieht, dass die Aussage über das Ziel hinausgeschossen ist. Er versucht, mich zu beruhigen: „Die Taliban haben versprochen, unseren Frauen alle Rechte zu gewähren. Das ist doch gut.“ „Ja, bestimmt“, winke ich ab und ziehe von Dannen, bevor ich noch etwas Unüberlegtes mache.

llustration: Aliaa Abou Khaddour
llustration: Aliaa Abou Khaddour

In Österreich leben laut der Statistik Austria rund 46.000 AfghanInnen. Fast die Hälfte von ihnen wohnt in Wien. Einer davon bin ich. Nachdem ich meine Familie in Herat zurücklassen musste, legte ich zu Fuß, auf der Tragfläche eines Pick-ups, im Schlauchboot und im Kofferraum mehr als 5000 Kilometer auf dem Weg nach Österreich zurück. Ich war zwei Monate ohne Grund im türkischen Gefängnis, hatte Todesangst bei der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland und ernährte mich von gestohlenem Mais in Mazedonien. Das alles, um in Frieden zu leben und dem täglichen Terror der Taliban zu entfliehen. Und dann muss ich mir von einem Landsmann anhören, es sei ja nicht alles so schlecht unter den neuen Machthabern Afghanistans. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht gewusst habe: Seine Meinung wird von Tag zu Tag beliebter.

Warum kehrst du nicht zurück nach Afghanistan?

Zwei Wochen später in Wien. Die Taliban feiern den Abzug der internationalen Streitkräfte, ich befinde mich auf einer der zahlreichen Demonstrationen gegen die neuen Herrscher in meiner alten Heimat. Wir leben zum Glück in einem freien Land und können auf der Straße politische Forderungen stellen, ohne um unser Leben fürchten zu müssen. Zusammen mit ein paar Hundert Landsleuten und einigen AktivistInnen fordern wir am Karlsplatz die Welt auf, unschuldige Menschen aus Kabul zu retten. Dort treffe ich Narges*. Ich spreche sie an, weil die junge Frau im weißen Sommerkleid kurz davor eine mitreißende Rede auf dem Podest gehalten hatte. Sie trägt ihr gelocktes Haar offen, ihre Augenbrauen sind präzise gezupft. Der rote Lippenstift und ein Nasenring runden das Outfit der eloquenten Studentin ab. Wem sie für die Misere in unserem Heimatland die Schuld gibt, möchte ich von ihr wissen. Narges zögert: „Aschraf Ghanis Regierung war korrupt“, entgegnet sie nüchtern. Die Taliban erwähnt sie nicht. Tatsächlich flossen die meisten Hilfsgelder aus Amerika direkt in die Taschen des Ex-Regierungschefs und seiner Gefolgschaft. In den sozialen Medien, wie TikTok oder Telegram, ist es ein offenes Geheimnis. Dort machten Gerüchte die Runde, Ghani wäre mit einem Hubschrauber voller Geld außer Landes geflohen. Wahrscheinlich wollte der „Verräter“, wie Ghani hämisch von vielen Afghanen genannt wird, dem Schicksal des 1996 von den Taliban geköpften Ex-Präsidenten Nadschibullah entkommen. Den Leichnam des letzten kommunistischen Machthabers des Landes hängten die Gotteskrieger an einer Betonplattform für Verkehrspolizisten vor dem Präsidentenpalast auf. Zur Abschreckung, wie im Mittelalter. 

Taliban-Kämpfer in Kandahar nach dem Abzug der US- Truppen
Javed Tanveer/APA Picturedesk

Ihr habt keine Ahnung, welche Monster ihr kleinredet.

“Das war 1996. „Warum sollten die Taliban 2021 anders ticken?“, frage ich Narges. Vor allem zu Frauen sei das Regime streng, sagt sie mir. Aber: „Wenigstens ist die Situation ruhiger als in den letzten Jahren. Vor zwei Tagen sind 170 Menschen ums Leben gekommen (Anm. d. Red.: Bei einem IS-Anschlag in der Nähe des Kabuler Flughafens). Zu Ghanis Zeit starben 170 fast jeden Tag“, so Narges. Ich bin erstaunt. Und schockiert. Eine in Wien geborene Frau sieht die Taliban als das geringere Übel für unser Land. Ich staune, wie schnell sich das Narrativ der Taliban als abscheuliche Gotteskrieger und Menschenfeinde zu dem der „Retter Afghanistans“ oder in das „Geringere Übel“ abgeschwächt hat. Tatsächlich verhandelte Deutschland mit der politischen Führung der Taliban, um ihre Staatsbürger und AfghanInnen, die im Dienst der Deutschen Bundeswehr gearbeitet hatte, zu retten. Auch die USA machen nun gemeinsame Sache mit den Taliban, da sie einen gemeinsamen Feind haben: den afghanischen IS-Ableger „Khorasan“. Es kann doch nicht sein, dass diese Barbaren plötzlich salonfähig werden? In den letzten Jahren habe ich kaum einen Tag verbracht, ohne mir um meine Familie in Herat Gedanken zu machen. Mein Vater war ein Gefängniswärter, mein großer Bruder kämpfte bis zuletzt an der Front. Sie leben seither im Untergrund in meiner Heimatstadt, aus der ich fast täglich Videos zugeschickt bekomme. Der Inhalt: Männer werden ausgepeitscht, weil sie Namen von fremden Frauen in ihrem Handy gespeichert haben. Mädchen ab der siebenten Schulstufe wird der Weg in die Schule blockiert und es wird ihnen mit Steinigung gedroht, sollten sie sich widersetzen. Ihr habt keine Ahnung, welche Monster ihr kleinzureden versucht. 

llustration: Aliaa Abou Khaddour
llustration: Aliaa Abou Khaddour

 

Ohne Amerika würde es die Taliban nicht geben.

 Hussein * , ein Mittzwanziger mit starker Leidenschaft für Musik und Filme, ist hazarischer Herkunft. Wie viele andere Hazara hat er den Großteil seines Lebens im Iran verbracht. Dort ging er in die Schule, bevor er sich 2015 entschied, sein Glück in Europa zu suchen. Es verschlug ihn nach Wien. Als ich ihn über Facetime um 9 Uhr früh im Bett antreffe, zieht er sich noch schnell ein Unterhemd über und setzt sich auf. Hussein erzählt mir, dass er vorgehabt hatte, die afghanischen Regierungstruppen im Kampf gegen die Taliban zu unterstützen. Das sei vor rund zwei Monaten gewesen. Er hatte schon die Koffer gepackt, bevor die Mutter aus dem Iran seinen Plänen den Riegel vorschob. Auf die Taliban angesprochen weicht Hussein aus. Er spricht von einer Verschwörung gegen das afghanische Volk, die dem Land über 40 Jahre Krieg und Terror gebracht habe. Er sieht vor allem die Amerikaner als die Hauptschuldigen an der Misere, die Taliban als eine unerfreuliche Begleiterscheinung. Ohne Amerika würde es die Taliban nicht geben, sagt er mit lauter Stimme. Ich halte kurz still. Er verwechselt die Taliban mit den Mudschahedin, die mit Hilfe der USA die Russen Ende der 80er Jahre zum Rückzug zwangen. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Männer mit Turban, Sandalen und Kalaschnikow eine große Bedrohung für das freie Afghanistan sind. Die Taliban wurden vorwiegend von paschtunisch-afghanischen Flüchtlingen in Pakistan gegründet. Ihr Weg an die Macht ist mit Blut und Terror überzogen. „Viele afghanische Männer in der Diaspora unterschätzen, im Gegensatz zu Frauen, die Gefahr der Taliban“, erklärt Emran Feroz, der als freier Journalist u.a. für Die Zeit, taz und Al Jazeera schreibt. (siehe Interview S. 16) Der in Innsbruck geborene Feroz sieht eine starke Geschlechterparität in der Talibanfrage: „Vielleicht spielt das männliche Ego dabei eine Rolle, nach dem Motto : „Diese Männer haben das Land zurückerobert und die USA rausgekickt.“ Feroz ortet eine gewisse Kriegsmüdigkeit, die die Menschen zur Akzeptanz der Taliban drängt. Sie sehnen sich nach einer starken Hand, die Korruption und Krieg endgültig beendet, so Feroz. Ich verstehe jetzt etwas besser, warum selbst Hussein, der als Hazara zum Todfeind der Taliban gehört, die Gotteskrieger und neuen Herrscher Afghanistans nicht mehr gänzlich ablehnt. Auch Narges, die junge, moderne Frau, die ich auf der Demo in Wien kennenlernte, argumentierte mit dem Sicherheitsaspekt. Genauso wie der Mann vom Brunnenmarkt. Dieser Unwissende - wenn ich an ihn denke, steigt mein Blutdruck. Tut mir leid, ich kann die Emotionen nicht zurückhalten. Diese mittelalterlichen Delinquenten werden mein Heimatland doch nicht nach 40 Jahren endlich in ruhige Gefilde führen?

Wölfe im Schafspelz

Es ist mittlerweile Mitte September. Ich sehe Videos der Taliban, die Musik und Partys per Flyer verbieten wollen. Meine Mutter erzählt mir von Minderjährigen in gekaperten High-Tech-Helikoptern der amerikanischen Streitkräfte und wie kurze Zeit später der Hubschrauber wie betrunken über den Dächern Herats torkelt. In einem anderen Video sehe ich die Gotteskrieger in Vollmontur, wie sie Sportgeräte in einem Fitnesscenter auf ihre ganz eigene Art und Weise benutzen. Wäre das alles nicht so traurig, würde ich vor Lachen auf dem Boden liegen. Ich erzähle meiner Mutter vom Sympathieaufwind der Taliban in Wien. „Schau, mein Sohn“, sagt sie mit ruhiger Stimme in die Kamera und fängt zu erzählen an: über die positive Entwicklung von Herat, über die Parks, Spielplätze, Denkmäler, die neu gebaut wurden; über die wieder lebendigen Restaurants und Straßen. Frauen mussten in den letzten Jahren keinen Tschador tragen und durften die Schule besuchen. Manche Einwohner fühlten sich an wohlhabendere Städte jenseits der iranischen Grenze erinnert. Es gab zwar auch Anschläge, Plünderungen und Entführungen – ein kleiner Lichtblick gab den Menschen aber Hoffnung für die Zukunft, so meine Mama. Unter den Taliban wurden jene errichteten Denkmäler in den letzten Wochen zerstört. Frauen dürfen nur mehr vollverhüllt auf die Straße. Versammlungen mit Musik und Tanz sind untersagt. „Das kannst du ruhig den jungen Menschen sagen. Sie sollen sich selbst ein Bild von den angeblich geläuterten Taliban machen“, wird meine Mutter plötzlich laut. Sie kriegt sich schnell wieder ein, weil sie aufpassen muss, nicht von den Nachbarn gehört zu werden, die sie für wenige Afghani an die Taliban verpfeifen. Damit spricht sie mir aus der Seele. Den Wölfen im Schafspelz glaubt man nicht, sie sind noch immer Wölfe. Und wenn ihr wirklich so überzeugt von ihnen seid, geht nach Hause und baut mit ihnen Afghanistan auf. 

 

 

 

„Das männliche Ego spielt auch eine Rolle.“

Emran Feroz
Emran Feroz

Emran Feroz ist freier Journalist und hat Ende August das Buch „Der längste Krieg. 20 Jahre War on Terror“ herausgebracht.

Interview: Aleksandra Tulej

biber: Warum sagen viele Afghanen in Wien, Taliban-Regime ist uns lieber als Chaos im Krieg?“

Emran Feroz: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass junge Männer in der Diaspora oft eine andere Meinung als Frauen haben. Weil Frauen wissen, dass ihre Rechte  sie in Afghanistan und seitens der Taliban mit Füßen getreten werden, Männer haben da eine andere Position. Da spielt das das männliche Ego auch eine Rolle – nach dem Motto: „Diese Männer haben das Land erobert, und die USA rausgekickt“. Was stark auffällt, ist dieser Sicherheits-Aspekt, nach dem sie sich sehnen. Sie sagen dann: Wir wollen den Krieg und die Korruption nicht mehr, eine Ordnungsmacht muss her.

 

Hängt die Einstellungen der jungen Afghanen in Wien mit der korrupten Regierung Afghanistans zusammen?

Wenn man 15-20 Minuten aus Kabul hinausfährt, dann sieht man, dass nichts von irgendwelchen Geldern in den Dörfern angekommen ist. In den größeren Städten vielleicht eher, aber am Land sieht man rein gar nix davon, dort leben die Leute in bitterer Armut. Man muss auch sagen, dass vor allem die jungen Afghanen ihre Informationen oft aus Facebook, Instagram oder TikTok beziehen, wo diese Korruptions-Videos die Runde machen. Das ist ja ein offenes Geheimnis dort.

 

Welche Volksgruppen in Österreich stehen den Taliban am nächsten?

Dazu müsste man sich anschauen, wie lange die Menschen, von denen wir hier sprechen, schon hier leben. Wenn wir von jenen sprechen, die in den 80ern oder 90ern hergekommen sind, dann war das eher die gebildetere Schicht. Die hatten einen anderen Bezug zum Land – da wurde mehr auf dieses Einheitsgefühl geschaut, trotz der ethnischen Unterschiede. Das ist bei den Afghanen, die in den letzten Jahren hergekommen sind, aber schon anders. Da bleibt man eher unter sich. Oft wird gesagt, dass Hazara gebildeter und weltoffener sind. Das kann schon sein.  Paschtunen leben oft nach einem eher konservativen, traditionellen Weltbild. Aber dazu muss ich auch sagen: die von den Taliban kontrollierten Gebiete waren oft ländliche paschtunische Regionen, da wurde der War on Terror heftig geführt. Wir sprechen hier von einem dauerhaften Kriegszustand. Die Menschen wurden links liegen gelassen, aus Kabul kam keine Hilfe an. Also war Schulbildung dort auch nicht so möglich, und somit auch die Gefahr, sich zu radikalisieren, größer. Deshalb sympathisieren mehr Paschtunen auch mit den Taliban. Übrigens: Die Taliban machen jetzt auf „inklusiv“ und wollen nicht mehr differenzieren, wer woher kommt – aber in den Führungspositionen bei ihnen hast du fast nur Paschtunen.

 

Was sagen sie als Experte dazu, wenn ein junger Afghane in Wien meint, die Taliban seien das beste für Afghanistan?

Dem sage ich: Du würdest keinen Tag dort (über)leben bzw. es dort aushalten.  Solche Aussagen kommen oft von jungen Burschen, die selbst nie unter den Taliban gelebt haben, und die tendieren dann dazu, das alles zu romantisieren und da irgendeine Nostalgie hineininterpretieren. Ich verstehe natürlich die Kritik an der Regierung, aber ich bin nicht dafür, dass man die Taliban so verharmlost, wie es jetzt auch einige westliche Journalisten tun.

 

 

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