„Wir müssen Eltern dringend darüber aufklären, dass ein Kinderkopftuch im Islam verboten ist.“

16. Dezember 2020

Mouhanad Khorchide
Mouhanad Khorchide ist unter anderem als wissenschaftlicher Beirat der Dokumentationsstelle Politischer Islam tätig. (C)ZIT/Peter Grewer

Der Verfassungsgerichtshof beschloss im Jahr 2019 das Kopftuchverbot an Volksschulen. Dieses wurde nun gekippt. Wir fragten bei dem Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide nach: Alles nur Symbolpolitik oder ist das letztendlich doch zum Leid muslimischer Mädchen?

Interview: Nada El-Azar, Mitarbeit: Berfin Silen

BIBER: Ist es aus islamischer Sicht überhaupt ein Gebot für Mädchen im Volksschulalter, ein Kopftuch zu tragen?

Mouhanad Khorchide: Religiöse Gebote gelten im Islam ab der geistigen Mündigkeit, das heißt ab einem Alter, in dem der junge Mensch reflektieren und nachvollziehen kann, warum er sich für oder gegen eine bestimmte religiöse Haltung entscheidet. Er muss in der Lage sein, die verschiedenen Argumente und Gegenargumente abwägen zu können, um sich in religiöser Hinsicht selbst zu bestimmen. Daher besteht im Islam kein Kopftuchgebot für Kinder unter 14 Jahren. In der Praxis sind es meist die Eltern, die die jungen Mädchen zwar nicht direkt dazu zwingen, ein Kopftuch zu tragen, sie aber emotional unter Druck setzen, indem sie ihnen zum Beispiel vermitteln: „Gott hat dich nur dann lieb bzw. du bist nur dann eine gute Muslima, wenn du ein Kopftuch trägst“.

Inwiefern hätte das Kopftuchverbot vielleicht doch von großem Nutzen sein können?

Als Pädagoge denke ich an erster Stelle an die betroffenen jungen Mädchen und versuche, die Dinge aus ihrer Sicht zu betrachten. Ich frage mich daher, wer ihnen Rückendeckung geben wird, wenn die Eltern ihnen ein Kopftuch aufzwingen? Kein kleines Mädchen kommt von sich aus auf die Idee, in der Schule ein Kopftuch zu tragen und schon gar nicht mit dem Argument, seine sexuellen Reize bedecken zu wollen. Ich bin überhaupt kein Fan von Verboten, aber in manchen Fällen, gerade, wenn die Betroffenen junge Mädchen sind, die sich nicht wehren können und nicht trauen, sich gegen bestimmte Zwänge zu stellen, brauchen sie Rückhalt in der Gesellschaft und vom Staat. Wer sonst hilft diesen Mädchen? Mich haben in den letzten Jahren mehrfach besorgte Mütter um Rat gefragt, deren Anliegen häufig in eine ähnliche Richtung gingen: „Mein Mann zwingt unsere 8-jährige Tochter dazu, in der Schule ein Kopftuch zu tragen. Weder sie noch ich wollen dies, was können wir tun?“ Einige Mütter haben mir gesagt, dass ein gesetzliches Kopftuchverbot an Schulen für junge Mädchen die einzige Rettung vor dem Zwang des Vaters war. Wir müssen uns in die Situation der betroffenen Mädchen hineinversetzen und uns Gedanken darüber machen, wie wir uns mit ihnen solidarisieren und ihnen helfen können. Das Gegenargument mancher Verteidiger des Kinderkopftuchs lautet: „Wir müssen uns aber auch mit den Mädchen solidarisieren, die in jungen Jahren ein Kopftuch tragen wollen. Dies gehört zu deren Religionsfreiheit.“ Dem entgegne ich mit dem Appell: Wir müssen solche Mädchen und deren Eltern dringend darüber aufklären, dass ein Kinderkopftuch im Islam verboten ist. Ich würde mir wünschen, dass die IGGÖ so ein religiöses Verbot klar und unmissverständlich ausspricht. Das wäre ein starkes Signal, das die betroffenen Mädchen vom Zwang befreien könnte.

Warum ist das Kopftuch noch immer ein so heftig diskutiertes Thema? Ist es ein Zeichen der Unterdrückung oder nicht?

Das Kopftuchgebot wird in der Regel damit begründet, dass die Haare der Frau Männer reizen würden und die Frauen sie deshalb bedecken sollten. Ich lehne dieses sexistische Argument vehement ab, denn es trägt nur dazu bei, Frauen und Mädchen als sexuelle Objekte zu stigmatisieren, und Männer als von ihrer Sexualität getriebene Tiere. Wir wissen heute, dass das Kopftuch zur Zeit des Propheten Mohammed ein soziales Unterscheidungsmerkmal zwischen freien Frauen und Sklavinnen war. Letztere durften kein Kopftuch tragen und wurden zum Teil sogar bestraft, wenn sie dies taten. Selbst beim rituellen Gebet mussten Sklavinnen kein Kopftuch tragen. Diese Fakten, die uns heute einladen, das Thema Kopftuch an sich noch einmal kritisch zu hinterfragen, werden allerdings von vielen Muslimen verdrängt. Übrigens sieht man auf Bildern aus den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts in den islamischen Ländern selten Frauen mit Kopftuch, auch nicht an den theologischen Fakultäten. Ich würde mir wünschen, dass die IGGÖ eine Aufklärungskampagne in den Moscheen und sozialen Netzwerken starten würde, um die Menschen, vor allem die Eltern, besser aufzuklären. Mit Aufklärung meine ich, die Argumente und Gegenargumente darzulegen und den betroffenen Mädchen die Entscheidung zu überlassen, sich für oder gegen ein Kopftuch auszusprechen - ohne emotionalen Druck und ohne Zwang.

Sie fordern ein Umdenken in der Auslegung des Korans bzw. eine Reform des Islams. Was sind die ersten Punkte, die dabei berücksichtigt werden sollten?

Zum einen geht es um den Umgang mit dem Koran selbst, der für Muslime als Offenbarung Gottes gilt. Wie wollen wir Muslime heute den Koran zeitgemäß lesen? Es reicht zum Beispiel nicht zu sagen, dass man sich von Gewalt distanziert, wenn nicht gleichzeitig über den Umgang mit entsprechenden Passagen im Koran diskutiert wird. Wir müssten innerislamisch aufarbeiten, wie wir theologisch damit umgehen. Wer auf eine wortwörtliche Lesart des Korans beharrt und zugleich meint, der Koran sei gegen Gewalt, der macht sich unglaubwürdig, denn die Entschärfung solcher Gewaltpassagen setzt eine historische Verortung koranischer Aussagen in ihrem Verkündigungskontext im siebten Jahrhundert voraus. Aber genau diese historische Verortung wird von vielen Muslimen abgelehnt und sie meinen, alles was im Koran steht, gelte bedingungslos für alle Zeiten. Dazu gehören auch Körperstrafen und ein patriarchalisches Frauenbild. Was ich damit sagen will: Es reicht nicht, schöne Statements im Namen des Islams abzugeben, ohne sich gleichzeitig mit ihrer theologischen Fundierung auseinanderzusetzen.  

Zum anderen sehe ich Reformbedarf beim Thema Umgang mit Nichtmuslimen. Auch hier meine ich die theologischen Grundlagen und nicht einfach die schönen Pressestatements. Wenn zum Beispiel theologisch vertreten wird, dass Nichtmuslime unrein seien, weshalb sie weder den Koran berühren noch nach Mekka reisen dürfen, wie können sich Muslime und Nichtmuslime dennoch respektvoll auf Augenhöhe begegnen? Wir müssen uns auch in der Theologie von dieser abwertenden Haltung gegenüber Andersgläubigen bzw. Angehörigen anderer Weltanschauungen endgültig verabschieden. Zu Reformen gehört auch das kritische Reflektieren unseres Gottesbildes. In meinem letzten Buch „Gottes falsche Anwälte“ entwerfe ich in der zweiten Hälfte ein Verständnis vom Islam, das sich um die Liebe Gottes und um das Gott-Mensch-Verhältnis als Freiheitsbeziehung dreht. Viele junge Muslime wenden sich vom Islam ab, weil sie in ihrer religiösen Sozialisation zu wenig von Liebe und Barmherzigkeit im Islam hören. Sie assoziieren den Islam mit Restriktionen, Angst, Kontrolle und Bevormundung, aber nicht mit Freiheit.    

Koran
Wie soll der Koran in unserer heutigen Zeit interpretiert werden? Das ist eine Frage, in der viele Theologen streiten. Quelle: Unsplash

Ist der Koran dann überhaupt reformierbar, wenn er als direktes Wort Gottes gesehen wird? Ist das kein Widerspruch in sich?

Das ist die eigentliche Frage, auf die es ankommt: Wie verstehen wir die Offenbarung? Wie verstehen wir das Wort Gottes? Vereinfacht gesagt: Verstehen wir es als Monolog oder Dialog? Ein Monolog wäre vom historischen Kontext unabhängig und so verstehen nicht wenige Muslime den Koran bis heute. Wenn zum Beispiel in der 4. Sure, Vers 11, steht, dass Töchter die Hälfte von dem erben, was ihre Brüder erben, dann bedeutet das nach diesem Verständnis eine Art göttliche Instruktion für die Ewigkeit. Würde man sie verändern bzw. relativieren, wäre dies eine Verfälschung des Korans.

Der andere Zugang zum Koran ist der dialogische. Hier wird die Offenbarung als Rede Gottes in der Zeit und durch die Geschichte selbst verstanden. Daher spreche ich von Gottes Offenbarung in Menschenwort. So lautet auch der Titel eines meiner letzten Bücher. Diese Rede Gottes ist als eine Art Kommunikation aufzufassen, in der Gott auf die historischen Umstände rund um das Wirken Mohammeds und seiner Gemeinde im 7. Jahrhundert reagiert. Deswegen spricht der Koran auch eine andere kulturelle Sprache als wir heute. Unsere Aufgabe als gläubige Muslime wäre heute, nicht beim Wortlaut des Korans stehenzubleiben, sondern diese Kommunikation fortzudenken, indem wir uns fragen, was der Koran uns heute sagen kann. Zurück zu dem Beispiel mit der Erbschaft der Töchter: Damals haben die Töchter nichts vom Erbe bekommen. Der Koran hat eingeführt, dass sie nun die Hälfte bekommen sollten. Gegen diesen ersten Schritt in Richtung der Befreiung der Frau von der finanziellen Abhängigkeit vom Mann wurde sogar seitens einiger Freunde Mohammeds protestiert. Für damalige Verhältnisse war die Erlaubnis für die Töchter etwas zu erben ein erster revolutionärer Schritt. Und nun die Frage an uns heute: Bleiben wir dort stehen und behandeln den Koran als statisches, geschlossenes Gesetzesbuch oder verstehen wir die hier offenbarte Intention als Befreiung der Frau und denken diese fort? Wir lesen zum Beispiel heute im 21. Jahrhundert im Koran, dass Esel und Pferde Transportmittel sind (Koran 16:8). Bleiben wir dort stehen und verbieten uns, mit Autos und Zügen zu fahren oder verstehen wir den Koran in seinem historischen Kontext?

Was kann die heimische muslimische Community tun, um sich von innen heraus aufzuklären?

Aufklärung beginnt mit Selbstkritik. Selbstkritik wiederum setzt viel Selbstbewusstsein voraus, um sich jenseits von Apologetik mit der Lebenswirklichkeit hier in Europa auseinanderzusetzen und Defizite klar anzusprechen. Wenn nicht wir Muslime selbst dies tun, dürfen wir nicht beklagen, dass Rechtspopulisten die ersten sind, die unsere Probleme ansprechen. Dies führt dann sehr oft dazu, dass sich viele Muslime in eine Verteidigungshaltung begeben und beginnen, Fehlentwicklungen zu verteidigen oder zu verdrängen. Das Beispiel mit dem Kinderkopftuch ist ein Paradebeispiel dafür. Plötzlich beginnen auch moderate Muslime, sich direkt oder indirekt für ein Kinderkopftuch einzusetzen, statt sich innerislamisch für ein islamisches Kinderkopftuchverbot auszusprechen.   

Ich verstehe den Islam im Sinne der Nächstenliebe. Darin bezeugt sich Religiosität. Religiös sein bedeutet, sich nicht von der Gesellschaft abzuschotten, sondern sich konstruktiv einzubringen.

Bundeskanzler Kurz hat einmal gesagt, dass Muslime oft in einer Opferrolle verharren oder auch oft von der linken Seite in eine Opferrolle gedrängt würden, was dann auch oft ausgenutzt werde. Stimmen sie damit überein?

Definitiv. Dieses Narrativ der Gleichsetzung der Muslime mit Opfern beschreiben viele. Das Problem besteht darin, dass es Gruppen gibt, die Interesse daran haben, dass sich Muslime nicht mit den europäischen Gesellschaften identifizieren. Der Westen soll als Feindbild wahrgenommen werden, vor dem man sich schützen muss. Man verdächtigt den Westen, er wolle den Islam okkupieren, er wolle die Muslime assimilieren, daher sei das Verhältnis zum Westen ein feindschaftliches. Dieses Narrativ findet man zum Beispiel bei den Salafisten genauso wie bei Anhängern des politischen Islams. Beide Gruppen teilen denselben Wunsch nach der Weltherrschaft des Islams. Beide Ideologien meinen, Muslime seien würdiger als Nichtmuslime. Und um eine innerislamische Solidarität herbeizuführen, konstruiert man einen Feind, der draußen auf die Muslime lauert und gegen den man sich solidarisieren muss. Akteure des politischen Islams verwenden dieselbe Opferrhetorik wie die Salafisten. Muslime werden als eine über alle Zeiten hinweg verfolgte Gemeinschaft imaginiert, die Gesellschaft wird in „wir, die Guten“ und „die anderen, die Bösen“, „wir, die Opfer“ und „die anderen, die Täter“ polarisiert. Anders als der Salafismus verpackt der politische Islam seine Rhetorik allerdings kaum in einer religiösen Sprache. Statt wie der Salafist die anderen als Kuffar (Ungläubige), Muschrikun (Polytheisten), Munafiqun (Heuchler) oder Fasiqun (Frevler) zu stigmatisieren, werden sie nun als Islamophobe, Islamhasser oder Rassisten klassifiziert. Und um der Opferhaltung der Muslime eine globale und historische Dimension zu verleihen, verwendet der politische Islam für den anderen Bezeichnungen wie der „weiße Mann“, der „Postkolonialist“ oder pauschal „der Westen“. Und so werden solche Begriffe fast als Synonyme verwendet und essentialisiert, um sie zur Herstellung einer Opferhaltung als globale und historisch verankerte kollektive Identität der Muslime zu benutzen. Diese Rhetorik ähnelt der des Salafismus, der den Islam schon seit der Zeit Mohammeds und bis heute als Zielscheibe von Juden, Christen und allen Nichtmuslimen sieht. Dabei geht es den meisten Muslimen hier in Europa viel besser als in einem Großteil der islamischen Länder.

Ohne Zweifel sind Muslime in der Tat eine diskriminierte Gruppe. Aber wo liegt die Gefahr, sie undifferenziert und gänzlich als Opfer der Mehrheitsgesellschaft zu sehen?

Es gibt wie gesagt ein großes Interesse von Anhängern des sogenannten politischen Islams, diesen Opferstatus im Bewusstsein der Muslime zu zementieren. Dieses Opfernarrativ spaltet die Gesellschaft, polarisiert und erzeugt Feindbilder, die keine sind. Dass es in unserer Gesellschaft Diskriminierungen gibt, ist unbestritten, aber die Grenze verläuft nicht zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Konservative Muslime diskriminieren nicht selten reformorientierte Muslime, sprechen ihnen zum Teil sogar ihren Glauben ab und betreiben Hetze gegen sie. Mit einem Opferstatus wollen sich manche gegen jede Form von Kritik immunisieren, auch gegen berechtigte. Jede Kritik am politischen Islam zum Beispiel wird als Angriff auf den Islam dargestellt.

Dieses Phänomen kennen wir aus dem Salafismus. Wenn jemand vor etwa 20 Jahren Kritik am Salafismus übte, hieß es, dies sei Kritik am gesamten Islam. So kann eine Immunisierung stattfinden. Diese Verweigerung, Selbstkritik auszuüben, erschwert aber auch die innerislamischen Reformen.    

Reform heißt, sich von veralteten Positionen zu lösen und sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen. Dies wird leider gleichgesetzt mit Kritik an den Muslimen selbst. Begriffe wie Islamophobie werden als Kampfbegriffe auch gegen reformorientierte Muslime verwendet und deswegen tauche auch ich im Islamophobie-Report auf – ja, als islamophob. Ein muslimischer Theologe, der sich für das Bild eines barmherzigen Islams einsetzt und dafür Morddrohungen von Fundamentalisten erhält, wird als islamophob dargestellt. Diese Stigmatisierung ist natürlich mit noch mehr Morddrohungen verbunden. Teile der Linken, die es gut meinen und Muslime in Schutz nehmen wollen, können manchmal nicht zwischen berechtigter und unberechtigter Kritik unterscheiden. Sie lehnen jegliche Form der Kritik an Muslimen ab und werden somit auch Teil des Problems und nicht der Lösung. Das ist in meinen Augen auch eine Form der Diskriminierung der Muslime.

Es wurden nach dem Terroranschlag, zwar nicht als direkte Ursache, Razzien gegen Strukturen der Muslimbruderschaft und der Hamas durchgeführt. Wie breiten sich solche Strukturen in Österreich aus?

Die Dokumentationsstelle Politischer Islam wurde gerade deshalb eingerichtet, um solche Phänomene und Gruppen sowie deren Strukturen und Strategien zu erforschen und wissenschaftlich zu analysieren. Gerade Gruppen wie die Muslimbruderschaft, die sehr gut in Europa vernetzt sind, aber subtil arbeiten, versuchen, die Gesellschaft zu unterwandern, um sie letztlich von ihren freiheitlich-demokratischen Werten auszuhöhlen. Der Gründer der Muslimbruderschaft Hasan al-Banna, der schon 1949 starb, beschrieb das Ziel dieser Bewegung folgendermaßen: die Weltherrschaft erlangen, um eine islamistische Gesellschaftsordnung durchzusetzen. Heute versuchen solche Gruppen durch die Errichtung eigener Bildungs- und Jugendinstitutionen möglichst großen Einfluss auf die Jugend zu nehmen. Auch dies gehört zu den alten Strategien der Muslimbruderschaft, die von deren Gründervätern beschrieben wurden: Sie wollen möglichst Räume schaffen, in denen sie die „Wir“-Identität gegen den vermeintlichen Westen stärken.

Koran
"Wenn man Frauen in den Moscheen sagt: 'Ihr gehört in den hinteren Teil der Moschee oder in einen anderen Raum', ist das nicht eine Form der Diskriminierung?", so Khorchide. Quelle: Unsplash

Sind Jugendliche, die ihren Schwestern auflauern und ihnen Kleidervorschriften machen oder in Wien-Favoriten mit „Allahu Akbar“-Rufen durch eine Kirche laufen, allesamt Islamisten? Wie werden diese jungen Männer zu Sittenwächtern?

Es handelt sich um eine Mischung aus einer Machokultur und einer islamistischen Ideologie, die den Menschen religiöse Normen aufzwingen will und so das Recht des Individuums auf Selbstbestimmung gefährdet. Aber solche jungen Männer müssen diese Ideologie, durch die sie sich zu Sittenwächtern berufen fühlen, von irgendwoher haben. Meist übernehmen sie das autoritäre Auftreten von islamistischen Anführern, die ihre Vorbilder sind. In dieser Rolle fühlen sie sich mächtig, bestimmen über andere Muslime und schüchtern andere ein, um sich selbst bedeutend zu fühlen. Eigentlich handelt es sich bei den Gedanken/dem Ziel… vieler solcher Jugendlichen um die Suche nach Anerkennung, nach einer Rolle in der Gesellschaft, in der sie sich wichtig vorkommen. Nicht selten werden sie zum Opfer von menschenfeindlichen islamistischen Ideologien.      

Was ist ihrer Meinung nach das größte Versäumnis in der Debatte rund um den politischen Islam?

Das größte Versäumnis ist, dass noch immer von vielen Politikern die Gefahr des politischen Islams nicht erkannt wird und dass sich einige von ihnen selbst zensieren, weil sie Angst davor haben, als Islamkritiker abgestempelt zu werden. Sie ziehen sich deshalb zurück, wenn es darum geht, berechtigte Kritik am politischen Islam zu äußern. Problematisch sind leider auch solche Parteien, die in ihren eigenen Reihen Sympathisanten des politischen Islams dulden, nur um ein paar Wählerstimmen mehr zu erhalten. Wenn es zu Anschlägen kommt, reden wir über den Attentäter, und dies selbstverständlich zu Recht. Aber dieser ist nur das letzte Glied einer Kette. Das Problem beginnt mit einer menschenfeindlichen Ideologie. Wir haben es versäumt, uns mit Ideologien wie der Muslimbruderschaft kritisch auseinanderzusetzen. Die meisten Politiker, mit denen ich rede, sehen keine Gefahr, solange es keine Tat gibt - wie eine Bombe, die in die Luft geht oder wie ein geplantes Attentat. Das Problem liegt dort, wo es Ideologien gibt, die das Ziel haben, unsere Gesellschaft von den freiheitlich-demokratischen Werten auszuhöhlen.

Welche Dinge könnten sich in puncto Frauenbild im Islam ändern?

Wenn man Frauen in den Moscheen sagt: „Ihr gehört in den hinteren Teil der Moschee oder in einen anderen Raum“, ist das nicht eine Form der Diskriminierung? Was würden wir Muslime sagen, wenn man uns in öffentlichen Seminarräumen sagen würde: „Muslime dürfen nur hinten sitzen“? Wieso diskriminieren wir unsere eigenen Frauen und dies im Namen des Islams? Viele Frauen nehmen dies einfach unreflektiert hin und reproduzieren somit patriarchalische Strukturen. Wir brauchen eine Art Entsexualisierung des Frauenbildes. Frauen sind keine sexuellen Objekte, sondern selbstbestimmte Subjekte, die als solche behandelt werden sollten und die das Recht haben, für sich selbst zu entscheiden, wen sie heiraten wollen, was sie studieren wollen, wo sie arbeiten wollen und so weiter.

Sie haben unlängst einen Kommentar in der „Presse“ veröffentlicht, in dem Sie antimuslimischen Rassismus als Kampfbegriff des politischen Islams einstufen. Aber auch von den Linken wird der Begriff häufig verwendet. Welche Auswirkungen hat das auf den Dialog?

Ich lehne solche Begriffe wie Islamophobie deshalb ab, weil sie zu Kampfbegriffen des politischen Islams geworden sind. Natürlich gibt es Diskriminierung gegen Muslime, aber auch unter Muslimen. In der Praxis, wie z.B. im Islamophobie-Report, erlebt man, wie diese Begrifflichkeiten benutzt werden, um reformorientierte Muslime mundtot zu machen. Die Rede von Islamophobie und antimuslimischem Rassismus ist zu einem Machtinstrument geworden. Dieser Kampf gegen reformorientierte Muslime wird leider auch durch Teile der Linken unterstützt, um den Opferstatus der Muslime aufrechtzuerhalten und westliche Regierungen als Täter zu stigmatisieren. Die Gefahr ist allerdings, dass auch berechtigte Kritik unterbunden wird. Menschen fühlen sich eingeschüchtert. Die meisten haben Angst, als Rassisten abgestempelt zu werden. Und so schafft sich der politische Islam immer mehr Räume.

Ein klares Beispiel: Ich wurde auf einen arabischen Artikel in Al-Jazeera von Farid Hafez aufmerksam gemacht, den er für die Anadolu-Press geschrieben haben soll. Dort sagt er, dass ich die kategorische Schließung von Moscheen in Österreich und dabei den Rechtsextremismus unterstützen würde. Wissen Sie, was eine solche Verleumdung in der arabischen Welt auslöst? Meine Großfamilie und ich fühlen uns nicht mehr sicher. Und das ist ein Beispiel dafür, wie jemand wie Herr Hafez sich selbst gegen Kritik immunisieren will, gerne das Opfer spielt, dabei diesen Doppelstandard anwendet und Menschen durch Verleumdung in Lebensgefahr bringt.

Sie kamen als Kind palästinensischer Einwanderer als 18-Jähriger nach Wien und studierten Soziologie. Woher kam dann Ihr Interesse an der islamischen Religionspädagogik?

Aus persönlichem Interesse. Meine Eltern sind in den 1960er-Jahren nach Saudi-Arabien ausgewandert. Dort bin ich zur Schule gegangen, wo ich ein sehr einseitiges Bild vom Islam kennengelernt habe. Aber wir waren jedes Jahr im Sommer auf Besuch bei den Großeltern im Libanon, wo meine Eltern als palästinensische Flüchtlinge aufgewachsen waren. Libanon ist eine völlig andere Gesellschaft als Saudi-Arabien. Etwa die Hälfte der Bevölkerung sind Muslime, die andere Hälfte Christen. Die Hälfte der Muslime sind Sunniten, die andere Hälfte Schiiten. Im Libanon leben also viele Religionen in einer pluralen Gesellschaft miteinander. Entsprechend ist das Verständnis des Islams dort ein viel offeneres gewesen als in Riyad, wo ich zur Schule gegangen bin. Unser Status als Palästinenser in Saudi-Arabien war einfach staatenlos. Als Ausländer hatten wir keinen Zugang zur Krankenversicherung, auch nicht zu vielen Dienstleistungen und durften auch nicht die Universität besuchen. Das war der Grund, warum ich nach Österreich kam, um zu studieren. Als junger Mensch fragt man sich dann bald, wieso man als Muslim in einem nichtmuslimischen Land viel mehr Rechte hat als in einem muslimischen. In Österreich konnte ich vom ersten Tag an krankenversichert sein, durfte studieren, hatte dieselben Rechte wie die Einheimischen. Da fragt man sich, wieso Gott Nichtmuslime in der Hölle verewigen wird, wie ich es ich es in der Schule gelernt hatte. Wie gerecht ist dieser Gott, an den ich glaube und zu dem ich bete? Und so begann eine lange geistige Reise auf der Suche nach Antworten. Diese Reise ist bis heute noch nicht zu Ende. Und so habe ich gelernt, immer in Demut ein Suchender zu bleiben.     

Sie haben als Religionslehrer in Österreich gearbeitet und ihre Dissertation zu den Einstellungen der islamischen ReligionslehrerInnen an öffentlichen Schulen geschrieben. Sie waren auch als Imam in einer Moschee in Ottakring tätig. Gab es alarmierende Beobachtungen unter den Jugendlichen, mit denen sie damals zu tun hatten?

Als ich mit dem Unterrichten des Islams an öffentlichen Schulen begann, war ich ein Ersatzlehrer. Das heißt, wenn ein Lehrer krank oder kurzfristig verhindert war, musste ich einspringen. Man rief mich an, meist um 6 Uhr in der Früh, ich solle in dieser oder jener Schule unterrichten. Deshalb war ich an vielen Schulen tätig und habe oft die Beschwerden der Schülerinnen und Schüler gehört, die Lehrer würden nichts mit ihnen machen außer Moscheen malen. Die schlimmste Erfahrung, die ich gemacht habe, waren Schüler, die mir berichtet haben, ihr Lehrer würde sie regelmäßig schlagen, sogar mit dem Kopf an die Tafel. Ich war erschüttert und habe dies umgehend der IGGÖ gemeldet. Mein Ansprechpartner dort sagte mir, sie würden sich darum kümmern, ich dürfe mit niemandem darüber reden. Später erfuhr ich, dass dieser Lehrer eine enge Beziehung zum Vorstand der IGGÖ hatte und deshalb weiterhin unterrichten durfte und später sogar eine eigene islamische Privatschule errichteten konnte. Diese Erfahrungen haben mich skeptisch gemacht. Ich habe mich damals gefragt, welchen Beitrag der islamische Religionsunterricht überhaupt für die jungen Muslime leistet, wenn er so gestaltet wird. Das war übrigens auch der Anreiz für das Thema meiner Doktorarbeit. Mit dem Ergebnis meiner wissenschaftlichen Untersuchung, dass etwa 20 Prozent der Religionslehrkräfte ein Problem mit demokratischen Grundwerten hat, hatte ich nicht gerechnet. Ich wollte diese Ergebnisse mit dem damaligen Vorsitzenden der IGGÖ besprechen, aber er hatte daran kein Interesse. Er suchte nie das Gespräch mit mir, was mir einmal mehr bestätigte, dass in der Organisation des islamischen Religionsunterrichts etwas nicht stimmte. Das hat mich damals auch menschlich sehr enttäuscht. Ich hoffe, dass der Religionsunterricht in Österreich mittlerweile besser geworden ist und verantwortungsvoller durchgeführt wird. Dass viele junge Muslime mir damals erzählt haben, dass sie mit dem konservativen Islam nicht viel anfangen können, motivierte mich, selbst als ehrenamtlicher Imam zu arbeiten und in deutscher Sprache zu predigen. Ich habe eingesehen, dass die jungen Menschen Alternativen brauchen. Es reicht nicht, ihnen zu sagen, der Salafismus ist schlecht. Was bieten wir ihnen als Alternative an, damit sie sich als Österreicher und zugleich Muslime beheimatet fühlen?          

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