Das Simmeringer Ghetto

Ghetto

Meine Schwester rief mich auf den Balkon: „Komm schnell, es gibt wieder eine Hochzeit!“

Derartige Ereignisse waren ein Teil meines alltäglichen Lebens, als ich in Macondo lebte. Macondo nennen wir die Wiener Flüchtlingssiedlung in der Zinnergasse, die am Stadtrand von Simmering liegt. Der Gebäudekomplex befindet sich zwischen der Donau, Hauptkläranlage und A4. Die Siedlung ist für Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte vorgesehen.

Ein Blick in die Vergangenheit

Der Name der Siedlung stammt aus dem Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“ von Gabriel Garciá Márquez, in dem ein fiktiver Ort als „Macondo“ bezeichnet wurde. Nach dem Ungarischen Volksaufstand 1956 fanden zahlreiche Flüchtlinge in Macondo eine Unterkunft. Eine große Flüchtlingsgruppe, die Macondo besiedelten, bildeten die Menschen aus Chile. 1973 wurde in Chille die Regierung Salvador Allendes gestürzt und eine Militärregierung unter General Augusto Pinochet wurde gegründet. Aus diesem Grund flohen Tausende aus Chille. In den 1990er Jahren siedelten sich Geflüchtete aus Bosnien-Herzegowina in Macondo an. Heute prägen das Bild von Macondo Menschen aus Syrien, Somalia, Afghanistan, Tschetschenien, dem Irak und dem Sudan.

Flüchtlingskind im niederösterreichischen KIndergarten

Als ich mit meiner Familie nach Österreich floh, war ich drei Jahre alt. Kurz nach unserer Ankunft war mein vierter Geburtstag. Als wir Flüchtlinge waren, lebten wir in einer kleinen Pension in Niederösterreich. Mit großer Freude ging ich in den Kindergarten, wo eine Betreuerin freundlich zu mir war, während die andere mich nicht einmal angeschaut hat. Wie in jedem neuen Ort muss sich ein Mensch erstmals seinen Platz finden, doch ich hatte dort nicht einmal die Chance mich mit meinem Charakter und meiner geselligen Art zu beweisen. Jeder Mensch verdient eine Chance. Als Kind konnte ich nicht einsehen, inwiefern ich anders als die brünetten und blonden Mädchen im Kindergarten war. Wenn ich ihre Spielzeuge ausborgen wollte, wollten mir die anderen Kinder es nicht geben und an ihren Kartenspielen und Brettspielen durfte ich nie teilhaben, doch ich war niemals traurig, da meine gutmütige Betreuerin zu mir mit vielen Spielzeugen kam. Einmal gab sie mir ein weißes Schäfchen. An einem Tag wurde ich etwas später als sonst abgeholt, wodurch sich weniger Kinder dort befanden. Ein Bub borgte mir seine Autospielzeuge aus und ich spielte mit ihm, doch am nächsten Tag ignorierte er mich. Vermutlich ging er mir aus dem Weg, da alle Kinder anwesend waren. Dies verdeutlicht mir, dass die Wurzel der Rückständigkeit tief im Blut schwimmt und in Form von Gruppenzwang sich unter anderem äußert.

Ankunft im Ghetto

Nach ungefähr 9 Monaten bekamen wir eine Aufenthaltsgenehmigung, weshalb meine Familie und ich nach Macondo untergebracht wurden. Im ersten Augenblick merkte ich, dass die Kinder dort viel offener waren, doch durch meine vergangene Erfahrung hatte ich ein introvertiertes Verhalten. Macondo war ein Überlebenskampf für schüchterne Kinder, denn diese wurden gemobbt und ausgeschlossen. Als aggressives, impulsives und selbstbewusstes Kind hat man sich schnell einer Clique anschließen können und einen Platz in der Gesellschaft finden können. Einmal wurde ich mit Stöcken von Kindern beworfen, weil sie mich aus dem Spielplatz verscheuchten. Wenn ich in Schwierigkeiten mit anderen geriet, rief ich meinen großen Bruder zur Hilfe, doch irgendwann nahm ich mir vor, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und mir selbst zu helfen. Daher wurde ich extrovertierter und verwickelte mich sogar in Prügeleien, wenn mich die Kinder herausforderten. Auf die Weise fand ich dort sehr schnell Freunde und wurde von niemandem mehr gehänselt. Schließlich hatte niemand mehr Mut mich herauszufordern.

In Macondo wohnen Tschetschenen, Afghanen, Albaner, Somalier und weitere Nationalitäten. Wir waren alle divers, doch als Kinder beschränkten wir uns nicht auf das äußere Erscheinungsbild eines Menschen. Wir betrachteten den Umgang eines Menschen mit seinem Umfeld und nahmen die inneren Werte eines Menschen wahr.

Zwischen Kulturvielfalt und Gewalt

Zahlreiche Feste, wie zum Beispiel das Flüchtlingsfest, Kinderfest und Kulturfest brachten die Menschen dort zusammen. Es gab einen gewissen Zusammenhalt, doch gleichzeitig Konflikte. An Orten, wo mehrere Nationalitäten zusammenstoßen, kommt es oftmals zu Auseinandersetzungen. Ein solcher Ort war Macondo. Gewalt war leider an der Tagesordnung. Einerseits gab es die Kinder, die unabhängig von der Nationalität sich Freunde suchten und Gruppen bildeten. Andererseits gab es Menschen, die die politischen Konflikte ihrer Heimatländer in Form von physischer Gewalt austrugen.

Zwar wurde Macondo als Integrationswohnheim bezeichnet, doch außer das Angebot der Deutschkurse gab es keine Möglichkeiten die österreichische Kultur besser kennenzulernen oder seine Sprachkenntnisse zu vertiefen, da dort kaum Österreicher lebten. Ghettoisierung wird von der österreichischen Regierung vermieden, doch diese Siedlung ist das beste Beispiel für ein Ghetto. Bewusst werden anerkannte und bedürfte Schutzsuchende an einem Ort unterbracht, wo die Kulturvielfalt zwar ein Plus Punkt ist, doch in welcher Hinsicht erfolgt eine Integration, wenn man mit der einheimischen Bevölkerung oder Kultur nicht konfrontiert wird. 2010 sind wir von dort weggezogen, nach sieben Jahren in Macondo. Meine heutigen Nachbarn sind vor allem österreichische Pensionisten, die sich über den Lärm beschweren. In solchen Momenten vermisse ich meine Macondo-Siedlung, die mich durch die Auseinandersetzung mit Konflikten zu einem starken und selbstbewussten Mädchen machte und durch die Diversität andere Kulturen entdecken ließ.

Yalda Ghodrat ist 20 Jahre alt und Absolventin der AHS Geringergasse.

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