Eine "Reichstagsbrandverordnung" für die Türkei?

03. April 2015

Die Türkei wird vom linksextremistischen Terror heimgesucht. Die Regierung reagiert mit Verhaftungswellen. Am Ende könnte die Erdogan-Regierung mehr Machtbefugnisse haben. Die Ereignisse erinnern an den Berliner Reichstagsbrand von 1933.

Auch wenn der Anschlag der Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) schwer zu verurteilen ist und Terror nie Mittel zum Zweck werden darf, so ist die Reaktion der Regierung auf diese Ereignisse beispielhaft für autoritäre Regierungen. Mit Verhaftungswellen von Erdogan-Gegnern und weiteren Sicherheitsmaßnahmen, wird seine Macht weiter wachsen.

Seit der Gezi-Park-Bewegung wird in der Türkei ein Gesetz nach dem anderen verschärft, die Befugnisse der Polizei ausgeweitet, unliebsame Beamte aus der Justiz entlassen, suspendiert oder versetzt, Journalisten eingesperrt und Demonstranten als Terroristen bezeichnet. So auch ein 15jähriger Bub, der während der Gezi-Proteste zwischen den Fronten geriet und von einer Tränengaskugel getroffen wurde. Die DHKP-C wollte ein umfassendes Geständnis der Polizisten, die für Elvans Tod verantwortlich waren und schreckte vor Selbstjustiz nicht zurück.

Staatsanwalt ermittelte im Fall Berkin Elvan

Mehmet Selim Kiraz, der getötete Staatsanwalt, ermittelte in diesem politisch bedeutenden Fall, bei dem schon mehrfach der Staatsanwalt ausgetauscht wurde. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern, leitete er neue Schritte ein, um den tragischen Tod des Buben aufzuklären. Kiraz wurde bei der Befreiungsaktion mit einer Kugel am Kopf getroffen. Im Internet kursieren nun Verschwörungstheorien, dass Erdogan mit der DHKP-C gemeinsame Sache gemacht haben soll, um den Staatsanwalt loszuwerden. Freilich ist das ein kompletter Unfug. Doch es ist durchaus möglich, dass der Ankläger von einer Polizeikugel erwischt wurde. Die türkische Polizei ist mittlerweile so regierungstreu konzipiert worden, dass bei Terrorakten der Tod einer Geisel in Kauf genommen wird. Das primäre Ziel ist nämlich das Ausschalten des Terroristen, nicht die Befreiung der Geisel. Zudem ist der Tod des Staatsanwalts ein herber Rückschlag für die Ermittlungen zum Tod von Berkin Elvan. Ob die überzogene Polizeigewalt bei den Gezi-Protesten 2013 auf die Regierung zurückverfolgt werden kann, bleibt daher ungeklärt.

Reichstagsbrandverordnung schaffte Demokratie ab

Wie wird nun die Regierung auf den Terroranschlag der Linksextremisten reagieren? Ist es denkbar, dass sie seine Machtbefugnisse erweitern wird? Ein Blick in die Geschichte reicht aus, um eine Antwort zu bekommen. Kurz nach der Machtergreifung Adolf Hitlers stand in der Nacht zum 28. Februar 1933 der Berliner Reichstag, der heutige deutsche Bundestag, in Flammen. Für die Brandstiftung wurde der niederländische Kommunist Marinus van der Lubbe verantwortlich gemacht. Obwohl der Anschlag niemals restlos aufgeklärt werden konnte, wurde Lubbe zum Tode verurteilt und zahlreiche Kommunisten im Land festgenommen. Bereits am Folgetag wurde die sogenannte „Reichstagsbrandverordnung“ verabschiedet. Die Verordnung setzte jegliche demokratische Grundrechte außer Kraft. Persönliche Freiheiten, freie Meinungsäußerung, Versammlungsrecht und Hausdurchsuchungen ohne richterlichen Beschluss wurden plötzlich zum Recht. Über Nacht wurde die Demokratie abgeschafft.

Freilich wird sich die Demokratie in der Türkei nicht von einem Tag auf den anderen in Luft auflösen. Doch die politischen Entwicklungen sprechen dafür, dass das Land immer mehr von einer Partei und einem Mann dominiert wird, die von Meinungsvielfalt, Geschlechtergleichheit und von einer offenen Gesellschaft wenig halten. Auf  Terror durch Demokratiefeinde agiert sie selbst mit demokratiefeindlichen Mitteln.  Da sie sich auf ihrer Wähler jedoch verlassen kann, muss die AKP die Demokratie nicht abschaffen, sondern sie nach ihren eigenen Vorstellungen formen.

"Mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit"

Dagegen hat ein Land gezeigt, wie man richtig auf Terroristen reagieren kann. Nach dem entsetzlichen Amoklauf von Anders Behring Breivik in Norwegen im Juli 2011 mit 77 Toten stand das ganze Land unter Schock. Statt das Sicherheitsapparat aufzublähen und mit umfangreichen Überwachungsmaßnahmen zu reagieren, antwortete der damalige Ministerpräsident Jens Stoltenberg auf Breiviks Terror mit „mehr Demokratie, mehr Offenheit und mehr Menschlichkeit."

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