Heute vor 26 Jahren...

31. März 2017

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Jorge Gomondai
Ronny Geißler

Eine Nachricht spricht sich herum...

Im April 1991 lebten wir genau ein Jahr schon in Österreich. Mein jüngster Onkel wohnte wenige Kilometer von der Ortschaft entfernt, wo wir mit unseren Großeltern lebten. Ein Zug verband die beiden Ortschaften. Es war nur eine Station zu fahren. Die Zugfahrt dauerte ca. 5 Minuten. Dennoch sind wir nie mit dem Zug gefahren, nicht mein Onkel, nicht meine Mutter und auch wir Kinder nicht, auch nicht als wir älter wurden. Mein Opa erklärte das Zugfahren eines Tages zur großen Gefahr. Er erzählte uns, dass „Nazis“ einen Schwarzen aus dem fahrenden Zug geworfen und getötet hätten. Wir sollten nie mit dem Zug fahren - und das taten wir auch nicht.

Ich wusste damals nicht, wer „Nazis“ sind und warum „schwarz sein“ für die so schlimm ist, dass sie deswegen jemandem aus dem Zug warfen (das weiß ich heute auch noch nicht). Ich wusste auch nicht, was wir mit dem Schwarzen gemein hatten, dass sie auch uns nicht mögen. Erstmals lernte ich, dass ich „anders“ bin und dieses Anderssein manche Menschen wütend und gefährlich macht. Wir dachten auch, dass es bei uns in der Gegend passiert sein müsste, so wie meine Familie Angst hatte. Und so prägte uns diese Geschichte fast ein Jahrzehnt, unser erstes Jahrzehnt in Österreich.

War es nur eine "urban legend" oder sogar eine Lüge?

Lange Zeit hielt ich die Geschichte für ein Gerücht, eine „urban legend“. Es gab sogar eine Zeit, da hielt ich die Geschichte für eine gemeine Lüge meines Opas, um uns Jugendliche einzuschränken und uns vom Herumfahren abzuhalten. Das erste Mal, als ich alleine mit dem Zug gefahren bin, war ich 18 Jahre alt. Und wenn es nicht absolut unumgänglich gewesen wäre, meine Eltern hätten sich weiterhin geweigert. Ich musste aber nach Wien fahren, zur Immatrikulation auf die Uni. Was hatte ich mit meinen Eltern Jahre lang gestritten, um eine kurze Strecke von wenigen Minuten zu meiner Cousine auch mal alleine fahren zu dürfen - aber keine Chance. Es war - wie immer - Bildung für meine Eltern das einzige absolut legitime Argument, dem sie sich beugten. Und erst als sie sahen, dass ich immer wieder lebendig aus dem Zug ausstieg und nach Hause kam, wurde das Zugfahren zur Normalität. Nach mir sind die Jüngeren mit dem Zug gefahren, waren sie nicht auf das Gefahrenwerden angewiesen.

Heute, als ich zufällig in Twitter gesehen habe, sah ich diesen Tweet und es traf mich wie ein Blitz. Es kam so viel in mir hoch. Erst jetzt, 26 Jahre später, weiß ich, dass dieser Vorfall echt war und nicht nur ein Gerücht unter Türken oder eine Geschichte war, die sich mein Opa ausgedacht hatte.

https://twitter.com/AmadeuAntonio/status/847697472751366144

Wessen Sicherheitsgefühl und wessen Ängste bewirken etwas auf politischer Ebene?

Aus so einer großen Distanz bringt es mich zum Nachdenken und Erstaunen, was dieser Vorfall in einer - meiner - neu in Österreich angekommenen Familie angerichtet hat. So lange hat er das Handeln so vieler Menschen in meinem Umfeld geprägt. Man hätte meine Eltern für religiös konservative, "typisch türkische" Eltern halten können, dabei hielten sie das Zugfahren allen Ernstes für eine Gefahr für ihre als „anders“ erkennbaren Kinder. Und ich frage mich, wie die rassistischen Vorfälle hier und heute die eben in Österreich angekommenen Menschen prägen und welche Restriktionen sie sich und ihren Kinder zum Schutz auferlegen werden. Wie oft gehe ich auch heute früher weg von Treffen oder Veranstaltungen, um nicht zu spät nach Hause unterwegs zu sein, oder fahre mit dem Taxi - aus Sicherheitsgründen. Rassismus prägt die betroffenen Menschen in ihrem Alltag, er hat materielle Auswirkungen und reale, unmittelbare Präsenz in Leben. Wie viele Menschen aus der Dominanzgesellschaft kennen diese Ängste und Sorgen? Wie viel wird eigentlich unternommen, um die Sicherheit und das persönlche Sicherheitsgefühl von Menschen zu verbessern, die von Rassismus betroffenen sind?

Rest in peace, Jorge Gomondai.

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