Bosnien und Herzegowina - Ein Land wandert aus

21. Oktober 2021

Nationalismus, Korruption und fehlende Jobperspektiven sind die Gründe für den Massenexodus junger Menschen aus  Bosnien. Besserung ist keine in Sicht. 


Von: Anja Orozović, Mitarbeit: Amar Rajković und Florian Haderer, Fotos: Armin Graca

Eine Stunde Fahrt von Sarajevo entfernt liegt meine Heimatstadt Vareš, eine Kleinstadt in Zentralbosnien. An einem Nachmittag im August warte ich an einer der Bushaltestellen der Stadt auf den Bus nach Sarajevo. Über den Straßen liegt Staub und es ist sehr still, fast unheimlich. Eine trübe und verschlafene Atmosphäre, die in den meisten bosnisch-herzegowinischen Kleinstädten herrscht, aus denen in den letzten Jahren viele junge, gebildete Menschen ausgewandert sind. In den ersten Klassen der Grundschulen sitzen jedes Jahr immer weniger Kinder, weil sie von ihren Eltern nach Deutschland oder Schweden mitgenommen werden. Die Geschäfte schließen, Häuser und Wohnungen werden ausgeräumt und bleiben leer. Die zurückgebliebenen Großeltern, Tanten und Onkeln warten das ganze Jahr sehnsüchtig auf die Sommermonate und die kurze Rückkehr der Diaspora aus Stuttgart, Frankfurt, Wien, München, Oslo. 

 

ONE-WAY-TICKET NACH EUROPA
Der Exodus der jungen, oft gut gebildeten Schicht ist dabei in allen Teilen Bosnien und Herzegowinas spürbar, wobei die kleineren Städte am stärksten darunter leiden. So wie Vareš, meine Heimatstadt. Arbeitslosigkeit, Parteiproporz und fehlende Perspektiven haben schon viele meiner Nachbarn, ehemaligen Schulkameraden oder Bekannten vertrieben: „Ja, ich liebe meine Stadt, aber ich kann es mir nicht vorstellen, hier zu leben“, ist eine der häufigsten Aussagen, die ich beim Klassentreffen jedes Jahr höre, bevor ich wieder nach Sarajevo zurückkehre. 

Die Arbeitslosenquote in Bosnien und Herzegowina beträgt 32,7 % 

Die Ergebnisse einer Untersuchung, die das „Institut za razvoj mladih KULT“ (Institut für Jugendentwicklung KULT) in diesem Jahr durchgeführt hat, sprechen eine klare Sprache: Mehr als 50% der 3132 Befragten aus ganz Bosnien und Herzegowina (im Alter zwischen 15 und 30 Jahren) möchten die Heimat verlassen, 12,1 % haben sogar schon mit den Vorbereitungen dafür begonnen. Auch die Angaben der „Unije za održivi povratak i integracije“ (Union für nachhaltige Rückkehr und Reintegration) sind alarmierend: Seit 2014 sind 370.000 Menschen ausgewandert. Das ist mehr als ein Zehntel der derzeitigen Bevölkerung von 3,28 Millionen (Stand 2020). 

FLEISS STATT PARTEIBUCH
„Unsere Kinder sollen in einer Gesellschaft aufwachsen, in der Fleiß und Leistung geschätzt werden und nicht die Mitgliedschaft in einer politischen Partei“, erzählen mir Haris (37) und Vedrana (37) Kurspahić in ihrer leergeräumten Wohnung. Ich habe Glück, dass ich das junge Ehepaar noch antreffe, in wenigen Wochen geht es für sie mit ihren zwei Kindern nach Deutschland. Haris wischt sich den Schweiß von der Stirn, sein Hemd ist zerknittert und sein Haar staubig. Schon seit zwei Wochen räumt er mit Vedrana die alte Wohnung aus. Dem Juristen ist die Anspannung über den bevorstehenden Neustart anzumerken. Seine Frau und er haben alles selbst in die Wege geleitet: Arbeit und Wohnung gefunden, sich um das Arbeitsvisum gekümmert, Schulen für die Kinder ausgesucht. Haris erzählt mir all das mit einer gewissen Genugtuung. Die Vorbereitungen für den Umzug hätten über zwei Jahre gedauert. Ihr Heimatland, in dem sie aufgewachsen sind und ihre Kindheitserinnerungen zurücklassen, werden sie nur mehr als Gäste im Sommer besuchen. 

„Das Lebensklima in Bosnien ist schlecht. Die meisten Menschen haben die nationalistische Rhetorik und Aufteilung satt“, so lautet Marija Tadićs vernichtende Kritik am politischen Establishment in Bosnien und Herzegowina. Die 23-jährige angehende Germanistin kommt aus Žepče, einer mehrheitlich von bosnischen Kroaten bewohnten Stadt. Da fast alle Kroaten einen entsprechenden Pass besitzen, braucht sie kein Arbeitsvisum für einen längeren Aufenthalt in der EU. Eine privilegierte Ausgangslage für Marija und viele ihrer Freunde, die in den letzten Jahren massenhaft nach Irland oder Deutschland weggezogen sind. Marija plant, bald ihrem Bruder zu folgen, der schon vier Jahre in Hamburg lebt und als Kontrolleur am Hamburger Flughafen arbeitet. Der Bruder ist zufrieden und kann endlich sein Leben planen. Marija will das auch. 

Marija Tadić
Foto: Armin Graca

„Die Umgebung gibt dir deutliche Signale, dass du nicht hierher gehörst.“ Marija Tadić, 23, aus Žepče, Foto: Armin Graca

Beim Blick auf die Arbeitslosenzahlen versteht man die Genügsamkeit der auswandernden Menschen. Der Hauptgrund liegt dabei in der hohen Arbeitslosenquote (32,7 % im Mai 2020 nach der Statistik der Arbeitsagentur BiH). Laut den Angaben des Ministeriums für Zivile Angelegenheiten lebten 2020 in Bosnien und Herzegowina 777.000 Jugendliche im Alter zwischen 15 und 30 Jahren, von denen 60 % arbeitslos waren. Da verwundert es nicht, dass die jungen Menschen des Vielvölkerstaates ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen. Auf die korrupte Politik ist nicht Verlass. Die Warteschlangen vor den Botschaften werden immer länger, die Sprachkurse sind bis zum letzten Platz gefüllt. Passend dazu werden die One-Way- Tickets nach Slowenien, Österreich oder Deutschland jedes Jahr billiger. 

Ein Scherbenhaufen aus Korruption, Vetternwirtschaft und primitivem Nationalismus. 

Durch ihren alternativen Stil fühlte sich Marija schon immer als Ausnahme in ihrer Heimatstadt. Rote Haare, Iron Maiden-T-Shirt und Piercing ziehen hier immer noch schiefe Blicke auf sich. „Die Umgebung gibt dir deutliche Signale, dass du nicht dazugehörst. Viele meiner Freunde und Freundinnen haben auch ähnliche Probleme.“ Die schlechte ökonomische Situation sieht sie daher nicht als einzigen Grund für den „Brain Drain“ der jungen bosnischen Bevölkerung. 

Der dreigeteilte Staat mit seinem trägen Verwaltungsapparat, der grassierenden Korruption und politischer Uneinigkeit liefert verlässlich Schlagzeilen, die sich irgendwo zwischen Chronik, Politik und Groteske ansiedeln. Beispiele gefällig? Die Regierungsspitze steht zusammen mit der Familie Izetbegović im Fokus der sogenannten „Respirator-Affäre“, die während der zweiten Corona-Welle im Mai 2021 zahlreichen Menschen das Leben gekostet hat. Die Wirtschaft ist auf ständiger Talfahrt, das Gesundheitswesen droht zu kollabieren. Der kroatische Präsident Zoran Milanović wandelt unterdessen auf Tudjmans Spuren und tingelt im Sommer durch die vorwiegend kroatisch-dominierten Orte des Landes und verbreitet nationalistisch separatistische Parolen. Und als wäre das alles nicht genug, gibt es da noch einen gewissen Milorad Dodik, Srebrenica-Leugner und Gudenus-Freund, der als Präsident der „Republika Srpska“ deren Unabhängigkeit von Bosnien und Herzegowina forciert. 

FLUCHT VOR DER PRÜDEN GESELLSCHAFT
In der Hauptstadt der Republika Srpska, Banja Luka, erreiche ich telefonisch Ivana Četić. „Es ist Ende August und die Stra- ßen in Prijedor sind menschenleer. Selbst die für gewöhnlich gut gefüllten Kaffees zählen kaum Gäste“, so Ivana, die gebürtig aus Prijedor stammt und gerade von einem Besuch zurückkommt. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Philologischen Fakultät in Banja Luka und erzählt mir über Erfahrungen, die sie bei der Arbeit mit Jugendlichen gesammelt hat. „Viele, die gehen wollen, sind sich dessen bewusst, dass sie auch anders wo vielleicht nicht reich werden. Dafür werden sie in einer Gesellschaft mit weniger Vorurteilen und mehr Toleranz leben“, erklärt sie mir. Den Abwanderungswilligen ist ziemlich klar, was ihnen in Deutschland oder Schweden „blüht“. Neue Sprache, andere Mentalität, Fernweh nach Hause und sozialer Abstieg. 

Sie gehen trotzdem. Die Hoffnung auf Besserung im eigenen Land ist fast 30 Jahre nach dem Kriegsende für viele endgültig gestorben. Es gibt aber auch Ausnahmen. Die 29jährige Sonja Brković hat ihren Masterabschluss in Architektur an der Universität Sarajevo in Mindeststudienzeit abgeschlossen. Seit 2017 lebt sie in Mostar. Ich treffe sie in einem der zahlreichen Cafés der herzegowinischen Hauptstadt, die für ihre Alte Brücke und sommers für die unausstehliche Hitze bekannt ist. Es weht kaum ein Lüftchen, Sonja greift durstig nach einem kalten Glas Wasser. Während unseres Gesprächs wird Sonja schwermütig. Sie erzählt mir, dass sie während des Studiums motiviert war und Hoffnungen hatte, nach dem Abschluss einen Job zu finden, der auch etwas mit ihrem Architekturstudium zu tun hätte. Es kam jedoch ganz anders. So arbeitet sie derzeit für eine englische Firma, die sich mit digitalen Tracking-Systemen beschäftigt. Die Hoffnung, in Zukunft ihren gelernten Beruf als Architektin auszuüben, schwindet von Tag zu Tag. Sie möchte aber nicht aufgeben und will im Gegensatz zu meinen anderen Gesprächspartner*innen ihrer Heimat die Treue halten: „Die Situation ist zwar nicht erfreulich, aber meine Familie und Freunde sind hier. Momentan bin ich mit meinem Job zufrieden, aber man weiß auch nicht, was die Zukunft bringen kann.“ 

Sonja Brković
Foto: Armin Graca

Sonja möchte ihre Heimat die Treue halten - trotz der ungünstigen Vorzeichen. Foto:  Armin Graca

KANN ES DER GROSSWESIR AUS BAYERN RICHTEN?
Das klingt nach viel Arbeit für den neuen Hohen Repräsentanten Christian Schmidt. Dieser soll den zivilen und politischen Aufbau des Landes leiten. Er folgte Anfang August dem zwölf Jahre dienenden österreichischen Diplomaten Valentin Inzko. Schmidt behauptet zwar bei BR24, nicht der „Großwesir Bosniens“ zu sein, doch die Bevölkerung des gebeutelten Vielvölkerstaates hat hohe Erwartungen an den Bayer. Schmidt findet einen Scherbenhaufen aus Korruption, Vetternwirtschaft und primitiven Nationalismus im Balkanstaat vor. Ein Mix, der den Bosniern und Bosnierinnen ihr Heimatland vergiftet. 

Bei meiner Ankunft am Busbahnhof in Sarajevo sehe ich, dass der Abendbus nach Dortmund heute voll ist. Freunde und Familie liegen sich in den Armen, verdrücken noch eine letzte Träne. Nach der Abfahrt wird auch hier, am Peron 13 in der Hauptstadt, die gleiche Stille herrschen, die über den Straßen meiner Heimatstadt Vareš liegt. Die Auswanderer kommen zwar wieder, aber nur für kurze Zeit. Als Gäste im Heimatland. 

US-Sonderbeauftragte für den Balkan Matthew Palmer mit den Mitgliedern des dreiköpfigen Bosnischen Präsidiums, Milorad Dodik, Zeljko Komšić und Še k Dzaferović. (v. l. n. r)
US-Sonderbeauftragte für den Balkan Matthew Palmer mit den Mitgliedern des dreiköpfigen Bosnischen Präsidiums, Milorad Dodik, Zeljko Komšić und Šefik Dzaferović. (v. l. n. r)

 

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