Die Alternative zu Erdogan

08. August 2014

Am kommenden Sonntag finden die Präsidentschaftswahlen in der Türkei statt. Zum ersten Mal in der Geschichte der Republik wird der Souverän gebeten ihren Staatsoberhaupt zu wählen. Recep Tayyip Erdoğan wird mit Sicherheit zum neuen Präsidenten des Landes gewählt. Eine Sensation wäre es jedoch, wenn es zu einer Stichwahl käme. Viele glauben, es fehle eine Alternative. Zu Unrecht.

"Sie fällten Bäume, deren Schatten sie nicht verkaufen konnten. Sie haben Kinos geschlossen, zentrale Plätze geräumt. Was ist denn mit unserer Stadt passiert? Überall sieht man nur noch Gebäude!"

Im Wahlkampflied der Halkların Demokratik Partisi HDP (deutsch: Demokratische Partei der Völker), sind jede Menge Anspielungen auf die Gezi-Park-Demonstration von 2013 zu hören. Am Ende soll es ein Mann richten: Selahattin Demirtaş, der Kurdenpolitiker, der auf Grund seines charismatischen Auftretens in der deutschsprachigen Presse als der „kurdische Obama“ bezeichnet wird. Auch wenn diese Bezeichnung ein bisschen zu weit gehen mag, besitzt Demirtaş viele Eigenschaften, die einen modernen Politiker auszeichnen. Mit 41 Jahren ist der Anwalt der jüngste Kandidat um das Rennen des Präsidentenamtes, war zuvor im Vorstand einer türkischen Menschenrechtsorganisation und ist Mitglied bei Amnesty International. Seine Partei ist nach europäischem Vorbild aufgebaut. Mit einem Mann und eine Frau ist die HDP die einzige Partei in der Türkei, die aus einer Doppelspitze besteht. Die Botschaft ist klar: Männer und Frauen sind gleichberechtigt!

Regionalisierung statt Seperatismus

Lange Zeit galten kurdische Politiker und Parteien als verlängerter Arm der PKK, als Separatisten, die sich von der Türkei gewaltsam loslösen und einen Staat gründen wollten. Mittlerweile ist dieses Ziel in den Hintergrund gerückt. Auch der Politikstil und die Artikulation kurdischer Politiker haben sich verändert. Nicht die Errichtung eines kurdischen Staates war das Hauptziel, sondern eine Föderalisierung der Türkei nach deutschem und österreichischem Vorbild. Regionalisierung ersetzt Separatismus. Eine ganz neue Form der Opposition ist somit entstanden, eine Opposition, die nicht mehr starrsinnig kemalistische Prinzipien, sondern ein freiheitliches und föderales Staatsmodell verfolgt.

Auch andere Forderungen, die von Demirtaş und seiner Partei gestellt werden, gleichen fast einem Tabubruch in der konservativen Türkei. Die Religionsbehörde Diyanet, die vor allem das Sunnitentum privilegiert, soll ersatzlos abgeschafft werden, um die Benachteiligung von religiösen Minderheiten, wie Aleviten und Juden, zu unterbinden. Für die Wehrpflicht, die besonders streng ausgelegt wird, soll mit einem Zivildienst eine alternative für Verweigerer angeboten werden. Denn Wehrdienstverweigerung ist in der Türkei weiterhin strafbar. Sogar die LGBT-Bewegung findet Platz im Parteiprogramm. Mit diesen Zielen sollen sich nicht nur kurdische Wähler angesprochen fühlen, sondern auch Frauen, Homosexuelle, Umweltaktivisten, religiöse Minderheiten und das Bildungsbürgertum.

Zu modern für die Türkei?

Auch wenn das Programm der HDP einen modernen Charakter besitzt, gibt es einen Haken: Es spricht zwar Menschen an, die westlichen und europäische Werten gegenüber positiv gestimmt sind, die Mehrheit der türkischen Gesellschaft ist jedoch für diese Inhalte nicht zu begeistern. Zu liberal, zu modern und zu freiheitlich für eine mehrheitlich konservative Gesellschaft, die sich eher von Erdoğans religiöser Symbolpolitik und wirtschaftlichen Größenwahn ansprechen lassen.

Nichtsdestotrotz würde eine Stichwahl zwischen Erdoğan und Demirtaş eine demokratische Vielfalt in einem Staat hervorbringen lassen, wo diese dabei ist dahinzuvegetieren.

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