Ein Beitritt der Türkei zur EU gefährdet den Prozeß europäischer Identitätsstiftung

29. Mai 2008

 

Nach dem Beschluß vom Dezember 1999, die Türkei als Beitrittskandidaten
anzuerkennen, begannen die Verhandlungen im Oktober 2005. Deren schleppenden Verlauf (bisher ist erst ein Kapitel - Wissenschaft und Forschung - von insgesamt 35 Kapiteln eröffnet und am selben Tag wieder vorläufig geschlossen worden) nimmt eine Reihe von EU-Mitgliedstaaten immer wieder zum Anlaß, auf den offenen Ausgang und auf die Präferenz einer "privilegierten Partnerschaft" mit Ankara hinzuweisen. Zu den Verfechtern dieser Linie gehört neben Frankreich und den Unionsparteien in Deutschland unter anderem auch Österreich.
Die Studie des Österreichischen Instituts für Europäische Sicherheitspolitik
beschäftigt sich umfassend mit den Auswirkungen eines EU-Beitritts der
Türkei auf den Bestand und die Weiterentwicklung der EU. Sie kommt zu dem Schluss, dass ein solcher Beitritt die durch die (vorläufig zwar bereinigte) Verfassungskrise ausgelöste Debatte um die zukünftige Gestalt der Union noch verschärfen würde. Die Verfasser sehen die Union durch die 1999 in Helsinki beschlossene Entgrenzung der Gemeinschaft gleich in dreifacher Weise gefährdet, und zwar was ihre Identität, ihre Funktionsweise und das Vertrauen ihrer Bürger in die Handlungsfähigkeit der Union betrifft. Ausgangspunkt der Überlegungen ist dabei die Tatsache, daß das zentrale Kriterium der Aufnahmefähigkeit der EU, welches entsprechend den Beschlüssen von Kopenhagen ebenfalls eine Grundvoraussetzung für die Aufnahme eines Landes in die Union ist, im Rahmen der EU-Entscheidungsprozesse zur Türkei zu wenig berücksichtigt wurde. Dies gelte insbesondere für die politischen Kriterien, welche im engen Zusammenhang mit Artikel 6, Absatz 1 des Unionsvertrages zur Bestimmung der wesentlichen Leitprinzipien der Gemeinschaft im Sinne des Homogenitätsgebots stehen. Danach bilden Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten die politischen, rechtlichen und daher nicht verhandelbaren Grundlagen der EU.
Ausgehend von dieser Grundüberlegung, beschäftigt sich die Studie nicht nur mit den möglichen Problemen, die der Beitrittskandidat Türkei in die Union einbringen würde, sondern auch mit den politischen, institutionellen,
ökonomischen, kulturellen und sicherheitspolitischen Auswirkungen einer
Aufnahme des Landes in die EU. In diesem Zusammenhang monieren die Verfasser zunächst generell die mangelnde Berücksichtigung der politischen und rechtlichen Dimension eines Beitritts. So habe sich der Rat bei seinen Entscheidungen vor allem von außenpolitischen Überlegungen zur Stärkung der globalen Rolle der EU leiten lassen; ebendie geostrategische Bedeutung der Türkei war im Übrigen auch das Motiv für die Unterstützung des Beitrittsgesuchs Ankaras unter der rot-grünen Koalition in der Bundesrepublik Deutschland Ende der neunziger Jahre. Die Analyse hingegen kommt zu dem Schluss, daß der Beitritt zu einer für die Union nicht verkraftbaren politischen und institutionellen Überdehnung führen und damit mittelfristig die Existenz der EU selbst gefährden würde.
Die Autoren rechnen damit, daß in einer EU, in der sich die Machtbalance zu Lasten der ursprünglichen Mitglieder verschiebt, sowohl große wie auch
kleinere bisherige Mitglieder künftig nicht mehr bereit sein werden, mehr
Souveränitätsrechte an eine unberechenbare und schwer kontrollierbare Union zu übertragen. Viel entscheidender aber sei, dass der ohnehin mühsame Prozess europäischer Identitätsstiftung durch den Beitritt eines großen Landes wie der Türkei, das eine so ausgeprägte nationale Geschichte und Identität aufweist und einem anderen Kulturkreis angehört, gefährdet und blockiert würde. So müsse man bezweifeln, daß die EU beim Prozess der "Europäisierung" der türkischen Gesellschaft erfolgreicher sein könne als der Kemalismus, dem dies schließlich über nahezu das gesamte 20. Jahrhundert auch nicht gelungen sei.
Zu den Problemfeldern zählen die Verfasser auch die enormen
sozio-ökonomischen Konsequenzen eines Türkei-Beitritts. Mit der Aufnahme der Türkei wächst die EU-Bevölkerung um 18 Prozent - bei einem Beitrag des Landes von etwa zwei Prozent (bei günstiger Wirtschaftsentwicklung) zur Wirtschaftsleistung der Union. Damit nehmen nicht nur die sozialen und ökonomischen Disparitäten erheblich zu. Gleichzeitig erhöht sich der Reformdruck auf die Förder- und Transferpolitiken. Da solche Reformen einstimmig zu erfolgen hätten, in Folge der Aufnahme der Türkei aber sich die Machtbalance der Union weiter zugunsten der ärmeren Länder verschieben würde, wären kaum zu bewältigende Verteilungskämpfe programmiert. Jedenfalls verfügten die derzeitigen Nettozahler der Union unter diesen Umständen nicht einmal mehr über eine Sperrminorität im Rat.
Schließlich halten die Autoren auch das ansonsten oft zu hörende Argument von der Türkei als "Brücke" gegenüber der islamischen Welt für wenig plausibel: So ist die Türkei zum einen als laizistischer Staat und enger Allianzpartner der Vereinigten Staaten in der islamischen Welt nur bedingt ein glaubwürdiger Partner. Zum anderen birgt eine Mitgliedschaft - ganz ungeachtet der Frage, welche aktive Rolle die Union im Nahen und Mittleren Osten grundsätzlich ausüben will - die Gefahr, dass die Türkei damit gerade ihre Brückenfunktion verliert.
Insgesamt kommt die Studie zu dem Schluß, daß die Türkei die Voraussetzungen
für die Aufnahme in die EU nicht erfüllt - weder jetzt noch in absehbarer
Zeit. Die Deutlichkeit und Ausschließlichkeit, mit der sie diese Haltung
vertritt, lässt sich nicht zuletzt an ihrem Plädoyer ablesen, auch jetzt
noch eine Korrektur der bisherigen politischen Entscheidungen vorzunehmen.

Österreichisches Institut für Europäische Sicherheitspolitik (Herausgeber): Grenzenlose EU. Die Türkei und die Aushöhlung der Politischen Union. LIT-Verlag, Wien 2007. 369 S., 28,95 Euro.

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