Ein Erdrutschsieg sieht anders aus

11. August 2014

Der 12. Präsident der Türkei heißt Recep Tayyip Erdoğan. Überraschend ist der Ausgang der Wahl nicht. Ein Erdrutschsieg sieht aber anders aus. Das gute Abschneiden des Kurdenkandidaten Selahattin Demirtaş mit fast 10 Prozent gleicht einer Sensation.

51,7 Prozent ist eine absolute Mehrheit. Bereits in der ersten Runde konnte Erdoğan diese notwendige Hürde überspringen, um nicht in die zweite Runde zu gehen. Alles andere wäre für jemanden, der zuvor eine Wahl nach der anderen für sich entschieden hatte, ein Debakel gewesen. Das aktuelle Ergebnis ist zwar kein Debakel, aber ernüchternd. Mal ehrlich: Nach der mit viel Aufwand betriebenen Wahlkampagne, den emotionalen Kampfliedern, den vielen Halbmond-Fahnen und nicht zuletzt den peinlich genau organisierten Auslandsauftritten, etwa in Deutschland und Österreich, hätte man um die 60 Prozent erwarten können. Auch die Auslands-Türken haben hierzulande nicht unbedingt die Wahllokale gestürmt. Nur neun Prozent der über 100.000 wahlberechtigten Türken haben in Österreich ihre Stimme abgegeben. 80 Prozent haben Erdoğan gewählt. Der wirtschaftliche Erfolg, die Erneuerung der Infrastruktur und der immer breiter werdende Wohlstand der Konsumtürken geben ihm den nötigen Rückhalt.

 

Die gewollte Diktatur

Bis 2023, dem hundertjährigen Bestehen der Republik, soll die Türkei zu den zehn größten Wirtschaftsnationen der Welt gehören. Das hat der Noch-Premier immer wieder im Wahlkampf betont und notfalls müssen demokratische Strukturen dafür geopfert werden. Denn Erdogan duldet keinen Widerstand und bringt Gegner schnell zum Schweigen. Dennoch wurde dieser Mann von der Hälfte der Bevölkerung demokratisch gewählt. Eine gewollte Diktatur. Erdoğan ist kein selbsternannter totalitärer Herrscher wie Kim Jong-Un. Aber ein Präsident Erdoğan würde in der zentralistischen Türkei eine Macht ohne jegliche Kontrollmechanismen besitzen. Die Opposition der Nationalisten und Sozialisten ist schwach.

 

Der „kurdische Obama“

Umso erstaunlicher ist das gute Abschneiden des kurdischen Gegenkandidaten Selahattin Demirtaş, der heimliche Sieger dieser Wahl. Dessen 9,8 Prozent gleichen einer Sensation. Der „kurdische Obama“, wie die deutschsprachige Presse den charismatischen Politiker nannte, hat es nicht nur geschafft eine große Mehrheit in den von Kurden dominierten Provinzen zu holen  (z. B. Şırnak 83%, Hakkari 82%, Diyarbakır 64%, Tunceli 52%). Trotz geringer Sendezeit und ein extrem geringes Budget, schafften es Demirtaş und seine Halkların Demokratik Partisi (HDP) eine heterogene Wählergruppe anzusprechen, wie Wählerstromanalysen zeigen: Frauen, Homosexuelle, Gezi-Aktivisten, religiöse Minderheiten und das Bildungsbürgertum. Die Zeiten, in denen kurdische Parteien den verlängerten Arm der PKK darstellten, sind vorbei. Die Demirtaş-Partei ist mit einer Frau und einem Mann an der Spitze eindeutig westlich-demokratisch orientiert. Sie ist mit dem Ziel angetreten, die zentralistische Türkei zu regionalisieren. Mit der HDP gibt es erstmals eine freiheitliche und liberale Partei in der Opposition. Und diese könnte in den nächsten Jahren für Erdogan ganz schön zäh werden.

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