Entschließung des Europäischen Parlaments zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus

22. Mai 2009

Das Europäische Parlament fordert, den 23. August zum europaweiten Gedenktag für die Opfer aller totalitären und autoritären Regime auszurufen und eine gesamteuropäische Gedenkstätte für die Opfer zu errichten. Das Gedenken an die Vergangenheit müsse wach gehalten werden, da es keine Aussöhnung ohne Wahrheit und ohne Erinnerung geben könne. Europa benötige eine gemeinsame Sicht seiner Geschichte und müsse Kommunismus, Nazismus und Faschismus als "gemeinsames Vermächtnis" anerkennen.
Mit 553 Ja-, 44 Nein-Stimmen und 33 Enthaltungen hat das Europäische Parlament heute eine Entschließung "zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus" angenommen.
 
Die Abgeordneten bekunden darin ihren "Respekt für sämtliche Opfer totalitärer und undemokratischer Regime in Europa und bezeugen ihre Hochachtung denjenigen, die gegen Tyrannei und Unterdrückung gekämpft haben".
 
23. August - Gedenktag für die Opfer aller totalitären und autoritären Regime
 
Die Erinnerung an die tragische Vergangenheit Europas müsse wach gehalten werden, um die Opfer zu ehren, die Täter zu verurteilen und die Fundamente für eine Aussöhnung auf der Grundlage von Wahrheit und Erinnerung zu legen. Ohne Erinnerung und Wahrheit könne es keine Aussöhnung geben.
 
Der 23. August solle daher zum europaweiten Gedenktag für die Opfer aller totalitären und autoritären Regime ausgerufen werden. Dieser Tag solle "in Würde und unparteiisch begangen werden".
 
"Zu einer gemeinsamen Sicht der Geschichte gelangen"
 
Europa werde erst dann vereint sein, wenn es imstande ist, zu einer gemeinsamen Sicht seiner Geschichte zu gelangen, Kommunismus, Nazismus und Faschismus als "gemeinsames Vermächtnis" anzuerkennen und eine "ehrliche und tiefgreifende Debatte" über sämtliche totalitären Verbrechen des vergangenen Jahrhunderts zu führen, so das EP.
 
Die Abgeordneten sind davon überzeugt, dass eine "angemessene Bewahrung der historischen Erinnerung, eine umfassende Neubewertung der europäischen Geschichte und eine europaweite Anerkennung aller historischen Aspekte des modernen Europa" werden die europäische Integration stärken werden.
 
Gesamteuropäische Gedenkstätte für die Opfer aller totalitären Regime
 
Um die Vernetzung und die Zusammenarbeit unter nationalen Forschungsinstituten zu unterstützen, deren Fachgebiet die Geschichte des Totalitarismus ist, fordert das EP die Errichtung einer "Plattform für das Gedächtnis und das Gewissen Europas".
 
Auch für die Errichtung eines gesamteuropäischen Dokumentationszentrums bzw. einer gesamteuropäischen Gedenkstätte für die Opfer aller totalitären Regime spricht sich das EP aus.
 
Archive öffnen
 
"Entschieden und unzweideutig" verurteilen die Abgeordneten das EP alle Verbrechen gegen die Menschheit und die massiven Menschenrechtsverletzungen, die von sämtlichen totalitären und autoritären Regimes begangen worden sind.
 
Zugleich bedauern sie, dass der Zugang zu Dokumenten, die von persönlicher Bedeutung bzw. für die wissenschaftliche Forschung notwendig sind, 20 Jahre nach dem Zusammenbruch der totalitären kommunistischen Regime in Mitteleuropa in einigen Mitgliedstaaten noch immer über Gebühr eingeschränkt wird. Die Archive, einschließlich der Archive der ehemaligen internen Sicherheitsdienste, der Geheimpolizei und der Nachrichtendienste, müssten geöffnet werden. Es müsse jedoch sichergestellt  werden, "dass dieser Prozess nicht zu politischen Zwecken missbraucht wird".
 
EU-Ministerrat und EU-Kommission werden in diesem Zusammenhang aufgefordert, die Tätigkeiten nichtstaatlicher Organisationen wie etwa Memorial in der Russischen Förderation, die aktiv darum bemüht sind, Dokumente im Zusammenhang mit den während der stalinistischen Zeit verübten Verbrechen ausfindig zu machen und zusammenzutragen, zu unterstützen und zu verteidigen.

Das Europäische Parlament,

–  unter Hinweis auf die von den Vereinten Nationen verkündete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte,

–  unter Hinweis auf die Resolution 260 (III) A der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 9. Dezember 1948 zum Völkermord,

–  unter Hinweis auf die Artikel 6 und 7 des Vertrags über die Europäische Union,

–  unter Hinweis auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union,

–  unter Hinweis auf den Rahmenbeschluss 2008/913/JI des Rates vom 28. November 2008 zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit,

–  unter Hinweis auf die Prager Erklärung vom 3. Juni 2008 zum Gewissen Europas und zum Kommunismus,

–  unter Hinweis auf die Resolution 1481 der Parlamentarischen Versammlung des Europarates vom 26. Januar 2006 zur Notwendigkeit der internationalen Verurteilung der Verbrechen totalitärer kommunistischer Regime,

–  unter Hinweis auf die von ihm am 23. September 2008 angenommene Erklärung zur Ausrufung des 23. August zum Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nazismus,

–  unter Hinweis auf seine zahlreichen früheren Entschließungen zur Demokratie und zur Achtung der Grundrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der am 12. Mai 2005 angenommenen Entschließung zur Zukunft Europas sechzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, der Entschließung vom 23. Oktober 2008 zum Gedenken an die Opfer des Holodomor(3) und der Entschließung vom 15. Januar 2009 zu Srebrenica,

–  gestützt auf Artikel 103 Absatz 4 seiner Geschäftsordnung,

A.  in der Erwägung, dass Historiker darin übereinstimmen, dass völlig objektive Auslegungen historischer Tatsachen nicht möglich sind und es keine objektive Geschichtsschreibung gibt; unter Hinweis darauf, dass Berufshistoriker dennoch wissenschaftliche Instrumente zur Erforschung der Vergangenheit einsetzen und dabei bemüht sind, so unparteiisch wie möglich zu sein,

B.  unter Hinweis darauf, dass keine politische Institution und keine Partei ein Monopol für die Auslegung der Geschichte besitzt und für sich Objektivität beanspruchen kann,

C.  unter Hinweis darauf, dass offizielle politische Auslegungen historischer Fakten nicht durch Mehrheitsbeschlüsse von Parlamenten aufgezwungen werden sollten; in der Erwägung, dass kein Parlament mit Rechtsvorschriften verfügen kann, wie die Vergangenheit zu bewerten ist,

D.  in der Erwägung, dass ein Kernziel des Prozesses der europäischen Integration darin besteht, in Zukunft die Achtung der Grundrechte und der Rechtsstaatlichkeit zu gewährleisten, sowie in der Erwägung, dass in den Artikeln 6 und 7 des Vertrags über die Europäische Union geeignete Mechanismen zur Verwirklichung dieses Ziels vorgesehen sind,

E.  in der Erwägung, dass falsche Auslegungen der Geschichte den Nährboden für eine Politik der Ausgrenzung schaffen und damit zu Hass und Rassismus anstiften können,

F.  in der Erwägung, dass die Erinnerung an die tragische Vergangenheit Europas wach gehalten werden muss, um die Opfer zu ehren, die Täter zu verurteilen und die Fundamente für eine Aussöhnung auf der Grundlage von Wahrheit und Erinnerung zu legen,

G.  in der Erwägung, dass die europäische Integration von Beginn an eine Antwort auf das Leiden war, das von zwei Weltkriegen und der Tyrannei des Nationalsozialismus verursacht wurde, die zum Holocaust sowie zur Ausbreitung totalitärer und undemokratischer kommunistischer Regime in Mittel- und Osteuropa führten, und ein Weg zur Überwindung tiefer Spaltungen und Feindseligkeiten in Europa im Wege der Zusammenarbeit und Integration sowie zur Beendigung des Krieges und zur Sicherung der Demokratie in Europa,

H.  in der Erwägung, dass der Prozess der europäischen Integration erfolgreich gewesen ist und jetzt zu einer Europäischen Union geführt hat, die die Länder Mittel- und Osteuropas einschließt, welche vom Ende des zweiten Weltkrieges bis zu Beginn der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts unter kommunistischen Regimen gelebt haben; ferner unter Hinweis darauf, dass die früheren Beitritte Griechenlands, Spaniens und Portugals Hilfestellung bei der Konsolidierung der Demokratie im Süden Europas geleistet haben,

I.  unter Hinweis darauf, dass Europa erst dann vereint sein wird, wenn es imstande ist, zu einer gemeinsamen Sicht seiner Geschichte zu gelangen, Kommunismus, Nazismus und Faschismus als gemeinsames Vermächtnis anzuerkennen und eine ehrliche und tiefgreifende Debatte über sämtliche totalitären Verbrechen des vergangenen Jahrhunderts zu führen,

J.  unter Hinweis darauf, dass das wiedervereinigte Europa im Jahre 2009 den 20. Jahrestag des Zusammenbruchs der kommunistischen Diktaturen in Mittel- und Osteuropa und des Falls der Berliner Mauer begehen wird, was sowohl Anlass für ein ausgeprägteres Bewusstsein der Vergangenheit und eine Anerkennung der Rolle demokratischer Bürgerinitiativen als auch ein Anreiz für eine Stärkung des Gefühls der Zusammengehörigkeit und des Zusammenhalts sein sollte,

K.  in der Erwägung, dass es ebenfalls wichtig ist, derer zu gedenken
, die sich aktiv der totalitären Herrschaft widersetzt haben und die aufgrund ihrer Hingabe, ihres Festhaltens an Idealen, ihres Ehrgefühls und ihres Mutes als Helden des totalitären Zeitalters in das Bewusstsein der Europäer Eingang finden sollten,

L.  in der Erwägung, dass es vom Blickwinkel der Opfer aus unwesentlich ist, welches Regime sie aus welchem Grund auch immer ihrer Freiheit beraubte und sie foltern oder ermorden ließ,

1.  bekundet seinen Respekt für sämtliche Opfer totalitärer und undemokratischer Regime in Europa und bezeugt seine Hochachtung denjenigen, die gegen Tyrannei und Unterdrückung gekämpft haben;

2.  bekräftigt seinen Einsatz für ein friedvolles und wohlhabendes Europa auf der Grundlage der Werte der Achtung der Menschenwürde, der Freiheit, der Demokratie, der Gleichheit, der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte;

3.  betont, wie wichtig es ist, das Gedenken an die Vergangenheit wach zu halten, da es keine Aussöhnung ohne Erinnerung geben kann; bekräftigt seine vereinte Ablehnung aller Formen von Totalitarismus jedweden ideologischen Hintergrunds;

4.  erinnert daran, dass die jüngsten Verbrechen gegen die Menschheit und Akte von Völkermord in Europa erst im Juli 1995 stattfanden und dass es der ständigen Wachsamkeit bedarf, um undemokratische, fremdenfeindliche, autoritäre und totalitäre Ideologien und Tendenzen zu bekämpfen;

5.  unterstreicht, dass Dokumentationen und Augenzeugenberichte zur bewegten Vergangenheit Europas zwecks Stärkung des europäischen Bewusstseins für die Verbrechen totalitärer und undemokratischer Regime Unterstützung verdienen, da es keine Wideraussöhnung ohne Erinnerung geben kann;

6.  bedauert, dass der Zugang zu Dokumenten, die von persönlicher Bedeutung bzw. für die wissenschaftliche Forschung notwendig sind, 20 Jahre nach dem Zusammenbruch der totalitären kommunistischen Regime in Mitteleuropa in einigen Mitgliedstaaten noch immer über Gebühr eingeschränkt wird; fordert konkrete Bemühungen in allen Mitgliedstaaten mit Blick auf eine Öffnung der Archive, einschließlich der Archive der ehemaligen internen Sicherheitsdienste, der Geheimpolizei und der Nachrichtendienste;

7.  verurteilt entschieden und unzweideutig die Verbrechen gegen die Menschheit und die massiven Menschenrechtsverletzungen, die von den totalitären kommunistischen Regimen begangen worden sind; bekundet den Opfern dieser Verbrechen und ihren Familienangehörigen sein Mitgefühl, sein Verständnis und seine Anerkennung ihrer Leiden;

8.  erklärt, dass die europäische Integration als Modell für Frieden und Aussöhnung auf einer freien Entscheidung der Völker Europas beruht, sich zu einer gemeinsamen Zukunft zu verpflichten, und dass der Europäischen Union eine besondere Verantwortung für die Förderung und die Sicherung der Demokratie sowie die Achtung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit sowohl innerhalb als auch außerhalb der Europäischen Union zukommt;

9.  fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, weitere Bemühungen zu unternehmen, um den Unterricht über die europäische Geschichte zu intensivieren und die historische Errungenschaft der europäischen Integration sowie den augenfälligen Gegensatz zwischen der tragischen Vergangenheit und der friedlichen und demokratischen Gesellschaftsordnung in der heutigen Europäischen Union herauszustellen;

10.  vertritt die Auffassung, dass eine angemessene Bewahrung der historischen Erinnerung, eine umfassende Neubewertung der europäischen Geschichte und eine europaweite Anerkennung aller historischen Aspekte des modernen Europa die europäische Integration stärken werden;

11.  fordert in diesem Zusammenhang den Rat und die Kommission auf, die Tätigkeiten nichtstaatlicher Organisationen wie etwa Memorial in der Russischen Förderation, die aktiv darum bemüht sind, Dokumente im Zusammenhang mit den während der stalinistischen Zeit verübten Verbrechen ausfindig zu machen und zusammenzutragen, zu unterstützen und zu verteidigen;

12.  bekräftigt seine anhaltende Unterstützung für ein verstärktes internationales Justizsystem;

13.  fordert die Errichtung einer Plattform für das Gedächtnis und das Gewissen Europas, die Unterstützung für die Vernetzung und die Zusammenarbeit unter nationalen Forschungsinstituten bietet, deren Fachgebiet die Geschichte des Totalitarismus ist, sowie die Errichtung eines gesamteuropäischen Dokumentationszentrums bzw. einer gesamteuropäischen Gedenkstätte für die Opfer aller totalitären Regime;

14.  fordert eine Verstärkung der bestehenden einschlägigen Finanzinstrumente mit Blick auf die Unterstützung der vorstehend genannten Initiativen;

15.  fordert die Ausrufung des 23.August zum europaweiten Gedenktag für die Opfer aller totalitären und autoritären Regime, der in Würde und unparteiisch begangen werden soll;

16.  ist davon überzeugt, dass das letztliche Ziel der Offenlegung und Bewertung der von den totalitären kommunistischen Regimen begangenen Verbrechen in der Wiederaussöhnung besteht, die durch das Eingeständnis von Verantwortung, die Bitte um Vergebung und die Förderung einer moralischen Erneuerung erreicht werden kann;

17.  beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, den Parlamenten der Mitgliedstaaten, den Regierungen und Parlamenten der Bewerberländer, den Regierungen und Parlamenten der mit der Europäischen Union assoziierten Länder sowie den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten des Europarates zu übermitteln.

 

Quellen:

www.europarl.europa.eu

23. August zum europaweiten Gedenktag

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