Grenze nach Unten: Gastkommentar von Kenan Güngör

07. Oktober 2014

Einer der bedeutendsten Theoretiker der Moderne Niklas Luhmann sagte mal in desillusionierter Lakonie, dass die Grenze dessen, was Menschen Menschen antun können nicht bestimmbar sei, und die Grenze nach unten offen ist.

 

Wenn ich mir die Banalität und die Unerträglichkeit der dehumanisierten Barbarei in Syrien und im Irak anschaue, verzweifle ich. Es scheint ein Fluch der Minderheiten und des kurdischen Volkes zu sein, in einer politischen Geographie zu leben, in der ihnen das Mindestmaß eines menschenwürdigen, selbstbestimmten Lebens verwehrt wird. Ich weiß nicht mehr, das wievielte Leid und die wievielte Vertreibung der Kurden es ist. Ich weiß nur, dass die Unterdrückung, die Verhaftungen, Todesschwadronen und Vertreibungen uns, die aus den kurdischen Gebieten kommen, seit unserer Kindheit wie ein hässlicher Greifer verfolgen, der in verschiedenen Schüben seine Krallen in das Fleisch schlägt.

 

So sehe ich marodierende, fanatisierte IS-Kämpfer, die wetteifernd um ihren Platz im Himmel – der sich Großteils in männlich unterdrückten Sexualphantasien niederschlägt – kämpfen und andere den Preis dafür zahlen. Ich kann sie aber beruhigen: habt keine Angst vor der Hölle! Die habt ihr schon hier geschaffen!

 

Auf der Mahnwache in Wien sah ich in diesen Tagen eine junge Kurdin mit glasigen, in die Ferne gerichteten Augen. Ihr Handy hatte sie so umklammert, als wäre es ihr Herz, das man ihr jeden Moment entreißen könnte. Sie heißt Rewsan und kommt aus Kobane, jener kurdischen Stadt in Syrien, die von einer militärischen Übermacht der Terrormiliz IS seit 20 Tagen eingekesselt und angegriffen wird. Die Widerstandskämpfer – mit sehr hohem Anteil junger Frauen  - leisten trotz beschränkter Mittel ungeahnte, erbitterte Gegenwehr. Egal was passiert, sie sind entschlossen. Sie werden die Stadt nicht verlassen. Eben hat sie noch mit Ihrem Vater gesprochen, der in diesem Moment gegen die Belagerung ankämpft, dem fast unweigerlichen Tod ins Auge sehend. Sie ringt im Gespräch um Fassung und Zuversicht, der unsäglichen Verzweiflung zum Trotz. Ich spüre, wie sie ihre Tränen still nach innen fließen lässt. Ihre Geschichte steht für das Schicksal der Kurden, das ich nunmehr seit 40 Jahren kenne, aber auch des nicht enden wollenden Widerstandwillens.

 

redaktion@dasbiber.at

 

 

 

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