Wenn Pandemie auf Krieg und Diktatur trifft

04. August 2020

Während sich in Österreich manch einer weigert, Maske zu tragen, sterben in Syrien tagtäglich Menschen – dort, wo Corona auf Krieg und Diktatur trifft. Kolumnist Jad Turjman teilt seine Gedanken über das Jammern in Europa und den Alltag seiner Familie in Syrien.

Von Jad Turjman

Es ist Donnerstag, der 30. Juli. Der erste Tag des viertägigen Opferfestes. „Eid Al-Aḍḥā“. Ich wache auf und versuche, dem Drang aufs Handy zu schauen, zu wiederstehen. Ich habe mir vor kurzem vorgenommen, nicht gleich nach dem Aufstehen zum Handy zu greifen. Und das tut mir gut, aber heute ist es anders. Ich weiß, dass meine gesamte Familie wie üblich gleich frühstücken wird. Ich schaue ausnahmsweise aufs Handy und wie erwartet haben meine Mutter und Brüder mich mehrmals angerufen. Ich möchte zurückrufen, aber ich zögere…Wenn ich mit meiner Familie an solchen Tagen einen Videocall mache, freue ich mich zwar, aber nach dem Telefonat fühle ich mich einfach sehr traurig und einsam. Ich selbst feiere diese Feste, seit ich in Österreich bin, nicht mehr. Es fühlt sich nicht mehr wie zuhause an. Es geht letztendlich nicht um den Anlass, sondern um die Stimmung und die Menschen, mit denen wir feiern. Etwas hält mich davon ab, zurückzurufen. Ich scheue mich generell davor, sie in letzter Zeit anzurufen. Denn was sich momentan in meiner Heimat abspielt, ist absurd. Die Situation in Syrien hat sich dramatisch verschlimmert. Ich weiß nicht, wie ich meine Familie aufbauen kann. Ich komme selbst aus dieser Region, aber kann mir selbst mittlerweile nicht mehr vorstellen, wie meine Familie, die Menschen, in Syrien leben. Es ist eine reine Katastrophe, wenn Pandemie auf Krieg und diktatorisches Regime trifft. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. 

Menschen sterben vor den Krankenhäusern


Die Währung wurde um das zwanzigfache abgewertet, sodass mein Bruder mit seinem ganzen Lohn ein Abendessen kaufen kann- Die Kosten für die Schule seiner Töchter sind nicht mehr bezahlbar. Die USA hat neue Sanktionen gegen das diktatorische Regime verhängt, sodass das Land kaum mehr importieren darf. Und wer leidet darunter? Sicher nicht der Diktator in seinem Schloss. Die Autoschlangen vor den Tankstellen sind kilometerlang. Corona überwuchert mittlerweile das ganze Land, sodass jeder zweite unserer Nachbarn infiziert ist. Menschen müssen in den Fluren der Krankenhäuser stationiert werden und teilweise dort sterben, weil es keine Betten gibt. Israel hat vergangene Woche 28 Mal Syrien und Libanon bombardiert. Entführungen gegen Lösegeld sind Alltag. Menschen laufen nackt auf der Straße. Mütter legen ihre Babies vor die Moscheen. Es hat 42°C und Strom gibt es nur für ein paar Stunden pro Tag. Der Gefrierschrank gefriert nichts mehr. Die Menschen kaufen aber sowieso kein Fleisch. Weil es auch sehr teuer ist.

Hört auf zu Jammern.

Und was höre ich von meinen Brüdern? Nur "Alhamdullah". Jedes Mal wenn ich sie frage "wie geht es euch damit" sagen sie:" Gott Sei Dank. Uns geht es besser als vielen anderen." Die Menschen versuchen das ganze auszublenden und mit einer positiven Grundhaltung zu leben. Ich bin jedes Mal fassungslos und fasziniert. Und was höre ich hier in meiner Umgebung?
Nur Gejammer. Es wird gejammert und gejammert und gejammert... Wegen allem und gar nichts!  "Ich will keine Maske tragen," "Ich kann heuer nicht verreisen,"
"Ich arbeite 20 Stunden in einem klimatisierten Büro, aber ich bin urlaubsreif, ich kann nicht mehr, ich habe so viel Stress" „die vegane Ernährung für meinen Hund enthält doch Milchprodukte," "Die Nachbarn haben den Rasen drei wochenlang nicht gemäht," Ich auch! Ich jammere. Genau das was ich gerade mache. Ich jammere über die, die jammern, anstatt es besser als sie zu machen. Es geht uns hier nicht nur gut. Es ist ein Paradies auf Erden. Ich bin sehr dankbar dafür.

 

Jad Turjman ist Buch-Autor, Comedian und Flüchtling aus Syrien. In seiner Kolumne schreibt er über sein Leben in Österreich.

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