„Europa braucht Krisen“

19. April 2016

Die Flüchtlingskrise hat Europa ordentlich „ernüchtert“, sagt Jörg Wojahn, der die Vertretung der EU-Kommission in Wien leitet. Trotzdem glaubt der ehemalige Standard-Journalist, dass die EU in zwanzig Jahren stärker als jemals zuvor sein wird.


Interview: Emir Dizdarevic

Biber: Sie waren früher Journalist beim Standard: Würden Sie jungen Menschen heute noch empfehlen, in den Journalismus zu gehen?

Jörg Wojahn: Natürlich ist es finanziell wesentlich schwieriger geworden und die Zeiten werden auch nicht mehr besser. Aber Journalismus ist nun mal eine Berufung und die kann man nirgendwo sonst so toll ausleben.

Warum dann doch die Politik?

Ich habe keine gewählte Funktion und bin daher auch kein Politiker. Für mich ist es großartig, mit so vielen Menschen aus unterschiedlichen Ländern die Idee der EU zu verfolgen.

Sie waren ja auch Sprecher der EU-Betrugsbekämpfungsbehörde OLAF. Welche Bedeutung haben die Panama Papers für Sie und die EU?

Die Panama Papers haben eine große Bedeutung für die Steuergerechtigkeit dieser Welt. Sie zeigen uns, dass Leute mit mehr Mitteln auch mehr Tricks haben, das System auszunützen. Niemand sollte diese Möglichkeit haben dürfen.

Auf Twitter ist oft zu lesen, dass viele Menschen sich einen härteren Kurs gegenüber Korruption erwarten. Teilen Sie diese Auffassung?

Ganz massiv. Wir haben auch als EU schon wichtige Schritte gegen Korruption gesetzt, haben aber selbst nur beschränkte Möglichkeiten. Ständig wird auf sozial Schwache gehackt, die vielleicht bei der Sozialhilfe schummeln. Doch der Blick fällt viel zu wenig auf die Betrügereien Reicher oder auf die Korruption von Unternehmen.

Jörg Wojahn
Credit: Vertretung der EU-Kommission in Österreich

Laut einer Studie vertraut nur mehr jede vierte Person der EU. Als Reaktion haben Sie in der Vergangenheit unter anderem auf ihre Vermittlerrolle in Griechenland und auf Investitionspakete für Flüchtlinge verwiesen. Glauben Sie, dies ist für Bürger greifbar?

Das Problem liegt auch bei den Politikern. Viele der nationalen Politiker tun und entscheiden in Brüssel das eine und sagen dann zu Hause das andere. Die EU muss dann als Sündenbock für alles herhalten. Dann darf man sich auch nicht wundern, wenn keiner mit der EU glücklich ist. Die Menschen müssen dann geradezu das Vertrauen verlieren. Die Kommission alleine kann dieses Vertrauen nicht wiederherstellen. Auch nicht mit besserer Vermittlung und Kommunikation.

Die Flüchtlingskrise und der mögliche Brexit sind lebende Beweise, dass die EU nur ein loser Zusammenhalt von Staaten ist und keine Gemeinschaft. Was sagen Sie zur fehlenden Solidarität?

Wir sind in der größten Krise seit der Gründung der EU. Wir müssen uns auf das besinnen, was wir erreicht haben. Auch wenn wir sehen, dass alle 28 Mitgliedsstaaten nicht gemeinsam gleich schnell vorankommen. Wir sind alle ernüchtert, was aber nicht heißt, dass man das Ideal aufgeben muss. Wir müssen uns wieder auf unsere wahren Stärken konzentrieren und auf jene Staaten, die etwas tun wollen. Und die nicht so viel tun wollen, müssen halt in einer zweiten Reihe zurückbleiben.

„Wir sind in der größten Krise seit der Gründung der EU.“

Im Standard haben Sie gemeint, Sie sehen „Licht am Ende des Tunnels“. Zum Beispiel deshalb, weil man als Europa geschlossen hinter den Sanktionen gegenüber Russland steht. Braucht die EU einen gemeinsamen Feind?

Europa braucht Krisen, damit es sich weiterentwickelt. Ein Feindbild brauchen wir nicht. Krisen helfen uns, nicht selbstzufrieden zu werden oder das Gewonnene dann leichtfertig aufzugeben. In der Vergangenheit haben uns die Krisen immer weitergebracht.

Im selben Interview haben Sie auch gemeint, dass es mehr Zusammenarbeit auf europäischer Ebene braucht. In welchen Bereichen wäre das denn am dringendsten?

Im Allgemeinen in der Asylpolitik. Also bei der Frage, wer in Europa bleiben soll und wie wir das gemeinsam angehen. Auch in der Sicherheit gibt es angesichts der Terror-Herausforderungen viel zu tun, ebenso wie in der grenzüberschreitenden Kriminalität. Da müssen wir vom Staatendenken alter Schule Abschied nehmen. Kriminelle und Terroristen kümmern sich nicht um Grenzen. Wenn wir uns zu viel um unsere Grenzen kümmern, bringen wir uns in eine schwächere Position.

„Kriminelle und Terroristen kümmern sich nicht um Grenzen.“

Die EU-Kommission will, dass in Zukunft die EU über Asylanträge entscheidet. Wie optimistisch sind Sie, dass die Forderung durchgeht?

Wir halten es für logisch notwendig. Das große Problem heute ist, dass die Erfolgsaussichten eines Asylantrages von dem jeweiligen Staat abhängig sind, in dem er gestellt wird. Deshalb wollen Flüchtlinge auch lieber in bestimmte Länder, als in andere. Jetzt ist die Zeit für mutige Vorschläge, die objektiv nötig sind. Ob das durchsetzbar ist, ist eine ganz andere Frage. Wir wollen es zumindest versucht haben. Am Ende liegt die Verantwortung bei jenen, die das ablehnen. Und, dass das nicht machbar ist, sollen uns die Mitgliedsstaaten erst beweisen.

Und nun zum Abschluss: Wie sehen Sie Europa in 20 Jahren?

Es wird ein Kerneuropa geben und einen zweiten Kreis von Staaten, die etwas weniger zusammenarbeiten. Unsere Rolle in der Welt wird wichtiger sein denn je.


 

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