"Wir haben deinen Bruder" - Kurdische IS-Geiseln in Nordsyrien

10. Dezember 2023

Dawran wird seit zwei Monaten vom Islamischen Staat als Geisel gehalten, seine Familie in Europa versucht, das Lösegeld aufzutreiben. Die IS-Hochburg Ar-Raqqa ist 2017 gefallen, aber zunehmend lebt die Ideologie wieder auf, in den Gefängnissen Rojavas wächst eine neue ISIS-Generation heran. „Sie verstecken sich nicht mehr, der IS gewinnt wieder an Macht, das weiß hier langsam jeder.” Wir haben mit Dawrans Familie gesprochen.

Von Aleksandra Tulej

„Wir haben deinen Bruder, für 20.000 $ lassen wir ihn wieder frei.” Am 5. Oktober erreicht den kurdischstämmigen Araz, der in den Niederlanden lebt, ein Anruf einer unbekannten syrischen Nummer, am Telefon spricht eine ihm unbekannte Stimme.  Daraufhin wird das Handy weitergereicht, Araz hört noch ein schwaches „Ich bin am Leben.” Es ist Araz’ Bruder Dawran, der gerade von Mitgliedern der Terrororganisation ISIS entführt wurde. Daraufhin wird der Anruf beendet. Der Unbekannte ist, wie sich schnell herausstellt, ein Mittelsmann. Jemand, der meist aus der Region selbst stammt, und zwischen den Familien der Entführten und der Terrororganisation kommuniziert.

Eine neue IS-Generation wächst in den Gefängnissen heran

Klar ist: Dawran wird nun seit über zwei Monaten irgendwo in Ras El Ain direkt an der syrisch-türkischen Grenze vom IS als Geisel gehalten. Wo genau, weiß man nicht.Noch vor einigen Jahren dominierten die IS-Geiselnahmen die Schlagzeilen, man las immer wieder von Entführungen und Enthauptungen, wie im berühmten Fall des US-Journalisten James Foley, der 2014 vor laufender Kamera von ISIS-Kämpfern enthauptet wurde. Nach und nach wurden die vom IS besetzten Gebiete zurückerobert:Im September 2014 hat die kurdische YPG (Volksbefreiungsarmee) gemeinsam mit der FSA (Freie Syrische Armee) und anderen Milizen den IS in der Schlacht um Kobane den Islamischen Staat besiegt und die gleichnamige Stadt befreit. Die einstige IS-Hochburg Ar-Raqqa im Norden Syriens wurde 2017 durch syrische, kurdische und US-Amerikanische Streitkräfte zurückerobert – die meisten IS-Kämpfer, darunter auch ausländische Freiwillige, wurden bei der Schlacht um Ar-Raqqa gefangen genommen oder getötet, die Stadt somit befreit. Daraufhin verstummte auch das Medienecho rund um den sg. Islamischen Staat nach und nach. Aber: Tausende der damaligen Kämpfer und Sympathisanten befinden sich laut Berichten von Amnesty International nach wie vor in Lagern für IS-Gefangene in den Regionen der Kurdischen Autonomen Selbstverwaltung Rojava und warten auf ihren Prozess. Die Autonome Selbstverwaltung wird von keinem Land international anerkannt und hat somit auch keine diplomatischen Beziehungen. Daher können die kurdischen Behörden keine internationale Unterstützung bei den Strafverfahren anfordern. Die Gefängnisse seien restlos überfüllt, außerdem würden sich in Gefangenschaft neue Generationen der IS-Ideologie radikalisieren.

„Langsam aber sicher gewinnt der IS in der Region wieder an Macht”

Vor allem ist oft die Rede von den sg. „IS-Frauen”, Ehefrauen ehemaliger IS-Kämpfer, und deren Kindern. Ärzt:innen, die in den Gefängnissen arbeiten, berichten gar davon, dass zunehmend Söhne der Frauen, die mittlerweile Teenager im zeugungsfähigen Alter sind, ihre Mit-Insassinnen schwängern – mit dem Ziel, die Ideologie aufrecht zu erhalten. Viele der damals inhaftierten Frauen stammen übrigens aus Europa, die vor allem in den Jahren 2014-2016 nach Syrien gereist sind und sich dort dem sg. Islamischen Staat angeschlossen haben. Immer wieder gibt es Debatten über etwaige Rückführungen nach Europa. „Aber nicht alle sind in Gefangenschaft. Viele ISIS-Mitglieder haben sich damals entweder unter Zivilisten versteckt, oder sind später wieder zurückgekehrt. Und das ist das große Problem, das weiß jeder in Ras El Ain: Langsam aber sicher gewinnt der IS in der Region wieder an Macht.”, erklärt Dawrans Cousine Yara, die in Wien lebt. Der Großteil ihrer Familie, darunter auch Dawran, lebt noch in Syrien. „Zunehmend verstecken sich die IS-Kämpfer auch nicht mehr: Die typischen langen Haare, die Gewänder, die sie tragen, die Ringe – das kommt alles wieder”. Yara zeigt auf ihrem Handy Fotos der Erkennungsmerkmale. Human Rights Watch schätzte im Jahr 2020, dass etwa 8.200 Menschen vom Islamischen Staat gefangen gehalten werden. Die instabile politische Lage und das Chaos wird vom IS genutzt. Übrigens: Wer da genau gegen wen kämpft, ist in der Region unübersichtlich. Grundsätzlich wechseln vereinzelte Truppen, sowie ehemalige Soldaten verschiedener Armeen immer wieder die „Seite” – je nachdem, von welcher Seite die Finanzierung kommt, wie Menschen vor Ort berichten.Der ARD-Journalist Rimon Riesche hat im Juli 2023 mit kurdischen Streitkräften im Nordosten Syriens gesprochen. „Wir mussten unsere Strategie ändern. Früher standen wir den IS-Kämpfern an der Front gegenüber, heute müssen wir Schläferzellen aufspüren. Sie haben unsere Zivilisten und Streitkräfte im Visier.” erzählen die Soldaten im ARD-Bericht. Von Dawrans Entführung hat Yara von Familienmitgliedern erfahren. „Aber das passiert immer wieder, ich könnte dir einige Bekannte und Familienmitglieder nennen, die in den letzten Jahren vom IS gefangen genommen wurden, oder bedroht wurden, bis sie das Land verlassen haben – wie meine Schwester.” Yara ist gemeinsam mit Dawran aufgewachsen, sie sind etwa im selben Alter, wohnten Tür an Tür – 2015 kam Yara dann nach Österreich, weil die Lage in ihrer Heimat für sie zu unsicher wurde. Dawran blieb.

 

Reifen-Folter und 20.000 Dollar

Der 25-jährige Landwirt war eines Nachmittags im Oktober auf einem seiner Felder in Ras El Ain unterwegs, um dort nach dem rechten zu sehen – und wurte prompt von Kämpfern des sg. „Islamischen Staats” entführt. Die genauen Umstände der Entführung sind nicht bekannt – Dawrans Familie versucht seit dem 5. Oktober immer und immer wieder, den Mittelsmann zu kontaktieren. Gelungen ist es ihm bislang ein einziges mal: Ihm wurde mitgeteilt, dass Dawran nicht in der körperlichen Vefassung sei, um freigelassen zu werden, selbst wenn die Familie die verlangten 20.000 $ auftreiben würde. „Wir legen gerade alle zusammen, jeder steuert bei, was er kann”, so auch Yara. „Nicht in der körperlichen Verfassung” – das kann für Yara nur eines bedeuten: Reifen-Folter, von der jene, die es aus der Geiselhaft herausgeschafft haben, berichten.  Bei dieser Foltermethode werden die auf dem Boden hockenden und an Händen gefesselten Gefangenen in einen Autoreifen gezwängt und dann geschlagen.

Kurden sind die größte staatenlose Ethnie der Welt

„Dawran wollte nie nach Europa kommen, obwohl die Lage für uns Kurden in Ras El Ain nicht nur katastrophal, sondern auch lebensgefährlich ist. Er wollte in Syrien bleiben, für die Freiheit in seiner Heimat einstehen.”, so Yara. Und genau das wurde ihrem Cousin zum Verhängnis. Dawran hat seinen verpflichtenden Militärdienst bei der kurdischen Volksverteidigungseinheit (YPG) absolviert – die YPG kämpft seit Jahren gegen den sg. Islamischen Staat. Seit Juli 2014 gibt es in der Demokratischen Föderation Nordsyrien einen verpflichtenden Militärdienst von 12 Monaten für alle Männer von 18 bis 30 Jahren. Der Dienst für Frauen bei den kurdischen Frauenverteidigungseinheiten der YPG (YPJ) ist zwar freiwillig - aber rund ein Drittel der YPG-Kämpferinnen sind Frauen. In der Türkei wird die YPG als syrischer Ableger der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gesehen und als Terrororganisation eingestuft. Unter diesem Vorwand setzt Ankara bereits seit 2016 Bodentruppen vor Ort ein, um die kurdischen Kräfte zu vertreiben, immer wieder kommt es auch zu Drohnenangriffen. Länder wie die USA oder Frankreich unterstützen die YPG – vor allem im Kampf gegen den Islamischen Staat. Kurden bilden übrigens die größte staatenlose Ethnie der Welt: Sie sind im Osten der Türkei, Teilen des Irans, Iraks und Syrien angesiedelt. In der Türkei bilden die Kurden die größte ethnische Minderheit – und erfahren dort schon lange staatliche Unterdrückung, was wiederholt zu Spannungen zwischen der Separatistenbewegung und den türkischen Streitkräften führt. Der Konflikt hat sich auch auf Syrien ausgedehnt, wo die Kurden ebenfalls die größte ethnische Minderheit sind und unter staatlicher Unterdrückung leiden. Im Laufe des Bürgerkriegs konnten sie jedoch bedeutende Gebiete im Norden Syriens wieder einnehmen.

„Manchmal frage ich mich, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn ich nicht gegangen wäre? Jedes Mal, wenn ich ein Familienmitglied oder einen Freund verliere, weiß ich, dass ich das sein könnte.”, sagt Yara abschließend. „Ich habe mir ein wunderbares Leben in Wien aufgebaut, ich könnte nicht mehr verlangen. Aber jedes Mal, wenn ich jemanden in Syrien verliere, steht mein ganzes Leben Kopf. Mein Cousin hat sogar Glück, denn er hat uns, die es nach Europa geschafft haben und bereit sind zu helfen, aber viele andere, die niemanden haben, werden dem Tod überlassen.”

 

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Kommentare

 

Das was die USA, die Kurden und Jesiden dort bekämpfen, hat sich Europa ohne Grund selbst herein geholt. Eskaliert die Lage in Nahost vollends, eskaliert die Lage auch in einigen europäischen Ländern. Die israelfeindlichen Demonstrationen sind nur ein lauwarmer Vorgeschmack.
Ein schwacher Staat, eine schwache Gesellschaft ohne Werte, stehen dann plötzlich einer durch religiöse Radikalisierung homogenen Gruppe gegenüber, die sich von Platzverweisen und gutem Zureden nicht von Gewalttaten abhalten lassen wird.

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