DOPPELLEBEN: „MEINE ELTERN KENNEN MICH NICHT“

06. November 2014

Fortgehen, kurze Röcke und Jungs sind bei vielen Mädchen aus den Communities ein Tabuthema daheim. Um den unendlichen Diskussionen zu entkommen, werden Eltern angelogen, Dinge verheimlicht und zwei verschiedene Identitäten konstruiert.

 

Von Mona Rahmanian und Marko Mestrovic (Fotos)

 

Umgeben von beschmierten Schulklowänden, schaut Besa an ihren schwarzen Leggings unter dem Rock herab. Leggings, die sie gar nicht tragen wollte. Um die erste Schulstunde nicht zu verpassen, beeilt sie sich. Rasch zieht sie die Hose aus und stopft­ sie in ihre Tasche. So beginnt einer der vielen Schultage von Besa. Wie Besa geht es vielen Mädchen. Sie lügen ihre Eltern an, riskieren täglich aufzuzeigen und spielen mit dem Feuer. Denn was für viele Österreicherinnen selbstverständlich ist, ist für ihre Eltern ein rotes Tuch. Ob türkischer, persischer, arabischer oder sonst wie interkultureller Background, oft­ erlauben ihre Eltern nicht, was anderswo „normal“ ist – oder ihre Erlaubnis muss durch Bitten und Flehen erwirkt werden. Zwei Identitäten miteinander zu vereinbaren ist ein Kampf, in dem sich einige Mädchen befinden. So kommt es zum Doppelleben.

 

LEGGINGS UND KNIELANGE RÖCKE

„Ich wurde schon sehr konservativ erzogen“, erklärt Besa. Die 19-jährige Studentin aus Wien kommt ursprünglich aus Albanien. Ihre Familie legt sehr viel Wert auf heimische Traditionen. Anders als ihre österreichischen Freunde kann Besa nicht jede Entscheidung in ihrem Leben selbst treffen. In Sachen Kleidung bekommt Besa oft­ ein Nein zu hören. „Ich hatte dieses Sommerkleid, das ich zur Schule anziehen wollte, aber es war zu kurz. Ich bekam diese Leggings von meiner Mama aufgedrückt, die einfach behindert aussah.“ Den Eltern zu widersprechen ist für Besa nicht möglich, da sie immer das letzte Wort haben. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als die Leggings anzuziehen und sie am versifften Schulklo wieder auszuziehen. Die Geheimnistuerei ist anstrengend. Mit ihren Problemen hat Besa alleine zu kämpfen. „Ich hatte in der Schule niemanden, der mir zur Seite stand“, so die Studentin. Weder ihre österreichischen Freunde, noch die ausländischen Freunde verstanden ihre Probleme. Für die einen ist es klar, dass man selbst über den Kleidungstil bestimmt, für die anderen, dass man die Eltern respektiert. Und für Besa gilt eben beides.

Ähnlich geht es der 19-jährigen Studentin Tina, aus iranischem Hause. Ihre Familie, die seit Jahren in Österreich lebt, hat trotz liberaler Einstellungen viele Werte aus dem Orient mitgetragen. Den Eltern ist es besonders wichtig, dass Tina passend gekleidet aus dem Haus geht. Hier haben sich die Meinungen von Eltern und Tochter oft­ gespalten. Mit der iranischen Tradition begleitet, waren kurze Röcke und Kleider bei Tina nicht gern gesehen. „Meine kurzen Röcke habe ich immer bis zu den Knien runtergezogen und mich aus dem Haus geschlichen“, lacht sie. Wenn sie erwischt wurde, musste sie oft­ zurück ins Zimmer und sich umziehen.

 

DISKUSSION STATT DISCO POGO

Mittlerweile lebt Tina alleine. Als Schülerin geriet sie beim Fortgehen aber oft­ in Diskussionen. Fortgehzeiten waren ein hitziges Thema. Ihre Eltern verstanden nie, wieso sie im Allgemeinen fortgehen, geschweige denn längere Zeit im Club verbringen wollte. Jede Woche, so wie Schulkolleginnen, konnte Tina nicht Party machen. „Ich war schon neidisch auf meine Freunde, sie konnten gehen und kommen wann sie wollten“, so Tina nachdenklich. Der tropfende Schweiß von den Decken, die besoffenen Minderjährigen und billige Anmachsprüche, mit sowas wurde Tina nur bis halb eins konfrontiert, länger durft­e sie nicht wegbleiben. Ihre Abende nahmen immer dasselbe Ende: Der Vater vor der Tür des Clubs, mit dem Auto, bereit sie abzuholen.

 

„Ich bin fast 20 und meine Eltern wissen immer noch nicht, dass ich fortgehe“, sagt die junge Albanerin entschieden. Während Tinas Eltern sich weichkochen lassen – immerhin darf sie fortgehen – bleiben Besas Eltern standhaft­. Die 19-Jährige darf nie abends ausgehen. Mittlerweile lebt die Studentin schon alleine, ihre Eltern sind aber immer noch im Glauben, dass sie ihre Abende daheim verbringt. Tee und Pyjama in den Augen der Eltern, Bier und Disco Pogo aber die Realität. Damals, als Schülerin, musste sie o­ lügen und behaupten, sie übernachte bei Freunden, um abends mit fortgehen zu können. „Ich war extrem eifersüchtig auf den Lebensstil meiner Freunde, sie waren so frei.“ Wenn es um Fortgehen geht, muss sie ihre Eltern immer anlügen und neue Ausreden erfinden. Ihre Eltern wissen davon nichts. „Meine Eltern kennen mich nicht“, sagt die Studentin bestimmt, aber doch mit zitterndem Lächeln.

 

DOPPELLEBEN ALS EINZIGER AUSWEG

In dieser prekären Lage befnden sich nicht nur Tina und Besa. Viele haben Probleme ihre beiden Identitäten aufrecht zu erhalten. Manche brechen aus und hauen von zu Hause ab. Für diejenigen, die ihre Familien verstehen, ist das Doppelleben der einzige Ausweg. Die Eltern anzulügen ist für niemanden leicht. Ihre Lügen sind ein skurriles „Zeichen des Respekts. Die Eltern sollen in dem ganzen Lügensalat nicht verletzt werden, sondern nur verschont bleiben. Daheim verhalten sie sich, wie es sich gehört und treten niemandem auf die Füße. Sie verstehen beide Seiten, beide Welten, denn für das Doppelleben haben sie sich bewusst entschieden.

 

VERLOBT, VERLIEBT, VERHEIRATET

Amira ist eine 19-jährige Ägypterin aus Linz. Für sie gibt es selten Momente, in denen sie ihre Eltern anlügen muss. Sie wurde liberal und zur Selbstständigkeit erzogen. „Sie haben meinen Geschwistern und mir immer klar gemacht, dass wir in Österreich sind und uns anpassen müssen, aber trotzdem unsere Herkunft­ nicht vergessen dürfen“, sagt sie. Über ihren Kleidungsstil wurde sie nie unterrichtet. Sie wusste immer, was den Eltern gefällt und was nicht und hat sich dementsprechend gekleidet. Doch die liberale Erziehung der Eltern hat eine Grenze: Jungs.

Seit einiger Zeit hat Amira jemanden, den sie gern hat. Die Tatsache, dass es diesen Jungen gibt, muss sie ihren Eltern verschweigen. „Ich könnte ihn erst mit nach Hause bringen, wenn ich mir 100 prozentig sicher bin, dass ich ihn heiraten will“, erklärt sie. Denn in Ägypten verlobt man sich meist, bevor man sich kennenlernt. Für Amira ist das nicht so leicht, denn ihr Weltbild gleicht nicht ganz dem ägyptischen. Sie versteht ihre Eltern zwar und will einen Jungen gründlich kennenlernen, aber nicht gleich in eine Verlobung springen. Nach Hause nehmen wird sie ihn für eine lange Weile nicht. Die Verlobung ist ihr noch zu früh, also geht’s erst einmal auf einen heimlichen Kaffee.

Der Albanerin mit den „behinderten“ Leggings geht es darin gleich. Einen Jungen mit nach Hause zu nehmen, ist auch für Besa kein Kinderspiel. Sie müsste sich der Ehe ebenso sicher sein, andernfalls bräuchte sie ihn gar nicht erst den Eltern vorstellen. „Sie haben absolutes Mitspracherecht und ihr größter Wunsch ist es, dass er aus Albanien kommt. Sie vermitteln mir immer, dass ich es ihnen schulde, nach ihren Wünschen zu handeln“, meint sie. Einen festen Freund hat sie noch nicht, somit liegen diese Gedanken tief unter der Erde und werden nicht angesprochen. Sie ist glücklich darüber, keinen Jungen zu haben. Es wäre nur zusätzlicher Stress, da es für Besa klar ist, dass nicht jeder Bursche gleich Hochzeit und gemeinsames Leben bedeutet.

Alle drei Mädchen haben Eltern aus verschiedenen Ländern. Gemeinsamkeiten gibt es trotzdem. Den Eltern etwas zu verheimlichen oder sie anzulügen, hat jede schon geschafft. Sie sind nicht die einzigen. Aus Angst und Unentschlossenheit gibt es unzählige Doppelleben. Tausende Schülerinnen wechseln, wenn die Schulglocke zum Unterrichtsschluss läutet, in die zweite Identität, die zweite Haut. Wie Besa. Sie steht am Schulklo, zieht ihre Leggings wieder an und geht nach Hause. 

 

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