„Du wirst Arzt, Anwalt, oder eine Enttäuschung“ Warum Migra-Eltern ihre Kinder an die Uni drängen.

14. April 2023

r viele Kinder aus migrantischen Familien gibt es in Sachen Ausbildung nur zwei Möglichkeiten: ein gut angesehenes Studium zu absolvieren oder zur Enttäuschung der Familie erklärt werden.

 

Von Maria Lovrić-Anušić, Fotos: Zoe Opratko 

 

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©Zoe Opratko

 

Ohne ein Studium bist du nichts, diesen Spruch musste sich Mateo von seinen bulgarischen Eltern sein ganzes Leben lang anhören. Was genau er studieren sollte, gaben sie ihm nicht vor. Allerdings hatten sie eine Anforderung – er solle einen Studiengang mit Prestige, wie beispielsweise Medizin oder Rechtswissenschaften, wählen. Ihrer Auffassung nach würde der heute 28-jährige nur so von seiner Umwelt respektiert und angesehen werden. Mateo selbst wollte nie studieren, denn Prestige und Ansehen waren für ihn immer nur nebensächlich. Die finanzielle Abhängigkeit von seinen Eltern ließ ihn allerdings einknicken. So kam es dazu, dass er vier Semester lang ohne jegliche Motivation Wirtschaftsrecht studierte. Sein Wunsch, eine Lehre zum Elektriker oder Installateur zu machen, wäre den Vorstellungen seiner Eltern sowieso nie gerecht geworden. Für sie stand immer fest, dass er auf gar keinen Fall nur“ eine Ausbildung absolvieren dürfe. Mateo begann jedoch, sich heimlich ein eigenes Leben aufzubauen. Um auf eigenen Beinen zu stehen und sein Studium endlich abbrechen zu können, suchte er sich ohne das Wissen seiner Eltern einen Vollzeitjob in einem Büro für Projektmanagement und eine eigene Wohnung. „Natürlich war ich dann die Enttäuschung der Familie, erzählt Mateo etwas zynisch über seinen Ausbruch aus den familiären Zwängen. Seine Eltern geben heute noch abfällige Kommentare zu seinem Abbruch ab, diese kümmern ihn allerdings nicht. Sie sind sowieso zurück nach Bulgarien gezogen, also kann es mir eigentlich wurscht sein.

 

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Der Druck der Familie hält viele davon ab, ihren eigenen Wünschen nachzugehen. ©Zoe Opratko

 

So wie Mateo ergeht es vielen Migra-Kids in Sachen Berufswahl und Ausbildung. Egal ob im engen Freundeskreis oder auf Onlineplattformen wie Studis Online“ erzählen immer mehr junge Menschen von den strengen Forderungen ihrer Eltern. Sie berichten vom Zwang zu studieren und davon, dass Lehrberufe als absolutes No-Go angesehen werden, da man mit einem derartigen Abschluss kein vernünftiges Geld verdienen könne. Dabei haben sowohl Akademiker:innen als auch Lehrlinge im Durchschnitt die gleichen Berufschancen. Laut der Studie Bildung auf einen Blick“ der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung aus dem Jahr 2019 liegt die Beschäftigungsquote der 25-34-jährigen Akademiker:innen bei 85%. Dieselbe Quote gilt auch für die gleichaltrigen Absolvent:innen der Sekundarstufe, darunter fallen auch Lehrlinge. In den meisten Fällen meinen es die Eltern nur gut, da sie sich für ihre Kinder ein sorgenloses Leben wünschen. Sie merken jedoch nicht, wie stark sie ihre Kinder einschränken und unter Druck setzen.

 

Verstärkter Druck auf zweite Generation

 

Migrant:innen in der zweiten Generation trifft der Druck, einen akademischen Abschluss erreichen zu müssen, besonders stark, erklärt Universitätsdozent und Referent für Integrations- und Sprachenpolitik der österreichischen Arbeiterkammer Oliver Gruber. Vor allem, wenn die Eltern freiwillig ins Zielland migriert sind, spielt oft ihr Verlangen nach Verbesserung der eigenen und der Lebensbedingungen der Kinder eine Rolle. Eine Auswertung der Statistik Austria bezüglich des Bildungsstandes aus dem Jahre 2021 zeigt auf, dass 17,1% der Migrant:innen der zweiten Generation in Österreich einen Universitäts-, FH- oder Akademieabschluss besitzen. Das sind nur knappe drei Prozent weniger als bei Menschen ohne Migrationshintergrund (19,9%). Es lässt sich beobachten, dass die Ansprüche der Eltern an ihre Kinder enorm hoch sind. Die Kinder fangen oft, auch wenn ihre schulischen Leistungen es gar nicht nahelegen, ein Studium an. In der Literatur spricht man von dem Aspiration – Achievement Gap. Vereinfacht gesagt ist dies die Kluft zwischen dem Anspruch und dem tatsächlich erreichten Bildungsziel, so Gruber. 

 

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©Zoe Opratko

 

Soziale Hierarchien und Unwissenheit

 

Meine Eltern sahen in mir einen Ausweg aus der unteren sozialen Schicht, erzählt Nayla. Die Eltern der 26-jährigen Kurdin wuchsen in kleinen Dörfern in der Türkei auf. Sie mussten sowohl in ihrer Heimat als auch in Österreich ständig harte Knochenjobs verrichten. Um ihrer Tochter dieses Schicksal zu ersparen, drängten sie Nayla an die Universität. So kam es dazu, dass sie ihr Lehramtstudium begann. Dieses Phänomen nennt sich Zuwanderungsoptimismus Effekt. Migrantische Eltern haben die Vorstellung, dass in unserer Gesellschaft der eigene Status nur durch Bildung erhöht werden kann und haben deshalb hohe idealistische Bildungsziele für ihre Kinder, so der Universitätsdozent.

 

Nayla hatte allerdings bereits in der Schule ständig schlechte Noten und war mit den Erwartungen ihrer Eltern überfordert. Sie sehnte sich danach, eine Lehre zu beginnen und ihr eigenes Geld zu verdienen. Für ihre Eltern ein unvorstellbares Szenario. Das sei nicht zuletzt daran gelegen, dass sie nie wirklich gewusst hätten, was Lehrberufe eigentlich waren, wie Nayla berichtet. Sie hatten das Vorurteil, dass man mit einem Lehrberuf nur körperlich stark strapazierende Berufe ausüben könne. „Es wurde schon häufig festgestellt, dass unter Migrant:innen ein Informationsdefizit darüber vorhanden ist, welche Schulwege es gibt und wie die Jobmöglichkeiten mit einer Lehre aussehen, erklärt Gruber. Das führt dann dazu, dass der Standard – Ausbildungsweg‘ - sprich Matura mit darauffolgendem Studium - angestrebt wird. Aus diesem Grund stieß Nayla auch auf taube Ohren, als sie nach vier Semestern merkte, dass ihr das Studium nicht lag. Ist doch egal, Hauptsache du hast die Uni gemacht und dir geht es später besser, versuchte ihr Vater sie von einem Studienabbruch abzuhalten. Sie blieb jedoch standhaft und wechselte zum Studium Soziale Arbeit. Das alles gegen den Willen ihrer Eltern, denn die hatten die Sorge, dass Nayla auch dieses Studium abbrechen würde. Umso glücklicher und vor allem stolz waren sie, als die 26-jährige dann ihren Abschluss in der Tasche hatte. Auch wenn dieser Moment der Bestätigung für Nayla unbeschreiblich schön war, ist ihr dennoch bewusst, wie viel sie für diesen Titel, den sie nie wirklich haben wollte, geopfert hatte. Manchmal frage ich mich, wie es heute wäre, wenn ich damals eine Lehre gemacht hätte.

 

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Für migrantische Eltern bedeutet ein Diplom ein sorgenfreies Leben. ©Zoe Opratko

Das gut angesehene Studium

 

Nicht nur ob die Kinder studieren, sondern auch welches Studium sie wählen, möchten viele Eltern kontrollieren. Sara wollte zwar selbst schon immer studieren, nur eben nicht das, was sich ihre Eltern für sie vorgestellt hatten. Was sollen wir unseren Verwandten in Ägypten erzählen, wenn sie wissen möchten, was du aus deinem Leben machst?, fragte der Vater der 25-jährigen enttäuscht und aufgebracht. Grund für seine Aufregung war ihre Studienwahl: Soziologie. Ihre Eltern stammen aus Ägypten und zogen, was das Thema Studieren angeht, immer einen Vergleich dazu, was in ihrer Heimat als gut angesehen gilt. Sie hätten sich gewünscht, dass sie Medizin studiert, weil sie dann in ihren Augen einen guten Titel in der Tasche hätte. Ich habe meinen Eltern zuliebe die Aufnahmeprüfung für das Medizinstudium geschrieben, aber ich habe extra nichts dafür gelernt, damit ich durchfalle, erzählt Sara. Ihr war von Anfang an bewusst, dass sie auf jeden Fall das Soziologiestudium beginnen würde. Auf diese Entscheidung folgte allerdings ein Jahr voller Schuldgefühle, denn ihre Eltern ließen sie ihre Enttäuschung spüren. Sie betonten oft, dass sie extra nach Österreich gekommen wären, nur um ihren Kindern eine bessere Zukunft bieten zu können, und nun würden sie so hintergangen werden. In dem Moment, in dem Kinder das Gefühl haben, sie müssen jene Opfer gutmachen, die ihre Eltern erbracht haben, in dem sie nach Österreich gekommen sind, um ihnen eine bessere Zukunft zu ermöglichen, spricht man in der Literatur vom ‚Immigrant Bargain‘“, so Gruber. Es findet eine Art Handel zwischen den Kindern und der älteren Generation statt.

 

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©Zoe Opratko

 

Sara musste eine Menge Überzeugungskünste an den Tag legen, um ihre Eltern endlich zu beruhigen und auf ihre Seite zu ziehen. Als sie verstanden, dass sie nach dem Studium in die Forschung gehen oder an der Uni lehren könnte, waren sie endlich stolz. Heute kann Sara über die Geschehnisse und den Stress lachen. Damals war sie allerdings von Schuldgefühlen zerfressen und das nur, weil sie ihren eigenen Wünschen nachgegangen war.

 

Polizeischule statt Universität

 

Das waren die schlimmsten Jahre für mich, erzählt Selma über ihre Zeit in der Handelsakademie. Die Wirtschaftsfächer fielen der 22-jährigen mit bosnischen Wurzeln schwer und sie spürte bis zur Matura hin, dass die HAK eine falsche Entscheidung war. Sie hatte sowieso nie vor zu studieren und erst recht nichts im Wirtschaftsbereich. Der Besuch der Handelsakademie war allerdings auch nicht ihre eigene Entscheidung, sondern die ihrer Eltern – gepaart mit der Forderung, dass sie danach auf jeden Fall auf eine Universität gehen müsse. Sie selbst hätte eigentlich gerne eine Lehre gemacht, in der sie ihrer Kreativität freien Lauf lassen kann. Ausbildungen hätten in den Augen ihrer Eltern jedoch keinen Wert und sowieso würde man nur in Bürojobs gutes Geld verdienen. Laut Gruber ist die Frage nach dem Einkommen ein wichtiger Faktor für migrantische Eltern. Aus diesem Grund werden Berufe, bei denen Berufsbild und Gehalt klar einschätzbar sind, präferiert. Nach der Matura hatte Selma von ihren Eltern genaue Vorgaben bekommen: Kein Kunststudium, nichts im kreativen Bereich und nur eine Uni in der Nähe von ihrem Zuhause. Dass die 22-jährige bereits ganz andere Pläne für ihre Zukunft geschmiedet hatte, hielt sie lange geheim. Sie wollte zur Polizeischule und was Gutes für die Gesellschaft tun. Dabei war ihr von Anfang an schon bewusst, dass dieser Wunsch bei ihren Eltern nicht gut ankommen würde. „Du bist eine Frau, du kannst da nicht mithalten!, das wollte Selmas Vater ihr zumindest einreden. Er war selbst jahrelang im Militär und konnte den Wunsch seiner Tochter nicht nachvollziehen, denn für ihn war das ein reiner Männerberuf.

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©Zoe Opratko

 

 

Es kam zu unendlichen Diskussionen und Streitereien darüber, wieso sie nicht einfach ein vernünftiges Studium beginnen würde. Zumal sie für die Ausbildung auch alleine von ihren Eltern wegziehen müsste. „Bei Söhnen wird viel öfter eine Abgrenzung von den Vorstellungen der Eltern akzeptiert und auch vollzogen, erklärt der Universitätsdozent. Die Erwartungen der Eltern an die Töchter sind, dass sie in der elterlichen Umgebung bleiben und sich nicht von ihnen loslösen. Selma war aber klar, dass sie endlich einen Schlussstrich ziehen musste. Auch wenn sie ihre Eltern damit verletzte, zog sie eigenständig nach Wien, um sich ihren Traum zu erfüllen. Es war für sie an der Zeit, endlich für sich selbst einzustehen und ihren Eltern zu zeigen, dass sie kein Recht hätten, sich in ihr Leben einzumischen. „Hätte ich auf meine Eltern gehört, wäre ich jetzt wahrscheinlich unglücklich.“ ●

 

 

Danke an die Werkstatt Holz und Stahl sowie an die Universität Wien für das Bereitstellen der Räumlichkeiten für unser Shooting! 

 

* Alle Namen von der Redaktion geändert.

 

Die Fotos wurden nachgestellt. Es handelt sich auf den Bildern nicht um die Personen aus dem Artikel.

 

 

 

Kommentar von Autorin Maria Lovrić-Anušić

Wir müssen uns durchsetzen

 

Sine, wir wollen, dass du studieren gehst und mit deinem Kopf arbeitest, das ist der Standardspruch meiner Eltern. Geld, Ansehen und ein sicheres Leben ohne Probleme würden mich durch mein Diplom erreichen und ich müsste nicht wie sie in einem prekären Arbeitsumfeld schuften. Die Realität ist allerdings nicht so, wie sie sich meine und viele weitere Migra-Eltern vorstellen. Ein Universitätsabschluss ist kein Freifahrtschein für ein sorgenloses Leben. Abgesehen davon, dass nicht jeder Mensch für das Studieren geeignet ist, sollte man sich bei seiner Berufswahl auch an seinen eigenen individuellen Fähigkeiten orientieren. Wer aus Zwang ein Studium beginnt, wird auf Dauer nicht glücklich. Darum ist es so wichtig, dass wir Kinder lernen, uns durchzusetzen und unseren eigenen Bedürfnissen und Wünschen nachzugehen. Auch wenn das bedeutet, dass wir gegen den Willen unserer Eltern handeln müssen. Früher oder später werden sie trotzdem stolz auf uns sein.

 

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