"Ich bin in Damaskus aufgewachsen und dort hat man Juden unsere Cousins genannt"

14. Mai 2021

"Ein Versuch, durch ein dichtes Minenfeld zu manövrieren und für einen Frieden zwischen Israel und Palästina beizutragen. Die Schuldfrage wird uns nicht weiterbringen - die Frage, wer zuerst aufhört, schon." - Kommentar von Kolumnist Jad Turjman über die Lage im Nahen Osten.

von Jad Tujrman und Alina Knoflach

Vorab: Ich bin in Damaskus aufgewachsen und dort hat man Juden unsere Cousins genannt. Ein Blick auf die Geschichte zeigt die fundamentalen Gemeinsamkeiten des Judentums und des Islams: Nicht nur religiös und geschichtlich, Israelis und Araber sind genetisch eng verwandt. Leider wird der Blick auf diese Gemeinsamkeiten aufgrund der unzähligen kriegerischen Auseinandersetzungen immer unzugänglicher. Die Tatsache, als Araber über die Lage in Palästina und Israel zu schreiben, wird wahrscheinlich von vielen in ein parteiliches Licht gestellt, was die Objektivität erschwert. Weil ich mich bemühen möchte, diese Objektivität zu wahren, muss ich mir selbst meines arabischen Hintergrundes bewusst sein. Dies führt dazu, dass allein aufgrund der Sprachgleichheit die Konfrontation mit der palästinensischen Perspektive durch die Social Media und durch mein soziales Umfeld viel präsenter ist. Seit Tagen beschäftigen mich die andauernd aufscheinen Berichte, Fotos und Videos aus Israel und Palästina. Mir brennt der Atem und ich fühle mich ohnmächtig. Die Unterdrückung von Palästinenser*innen, die die unmenschliche Siedlungspolitik Israels erleiden und nun unter schwerer Bombardierung in Gaza stehen, geht mir sehr nahe. Ebenfalls die Unterdrückung von Zivilisten in Israel, die jetzt unter lebensbedrohlichen Angriffen von Hammas stehen. Aber auch die Unterdrückung von Jüd*innen in Österreich und Deutschland, die wieder einmal zur Zielscheibe von abscheulichem Antisemitismus geworden sind. Gleichzeitig bekomme ich viele Aufforderungen von Freund*innen, Stellung zu den gewaltsamen Vorgängen zu nehmen, da ihre Perspektive in dem deutschsprachigen Raum medial überhaupt nicht vertreten sei. 

Autor Jad Turjman
Autor Jad Turjman

Ich erlebe auch, dass viele intellektuelle Menschen mit muslimischen und arabischen Background, die sich den Kopf zerbrechen, wie sie Stellung zu den Geschehnissen nehmen können, aber aus Angst, dass sie Privilegien oder Jobs verlieren könnten, nichts tun. Aber durch Schweigen gefährden wir unsere Demokratie. Israels Politik zu kritisieren ist nicht antisemitisch. Wir müssen darüber reden. Die Auseinandersetzungen in Israel und Palästina gehören zu den kompliziertesten und komplexesten der Menschheit. Es gibt kaum einen Krieg, der eine dermaßen aufgeladene Intensität und Emotionalität über eine so lange Zeit hinweg entwickelt hat. Was wir dringender denn je brauchen ist ein Dialog, in dem alle Perspektiven gleichermaßen vertreten sind. Ausgenommen von Antisemiten, die die Existenz von Israel in Frage stellen, Extremisten und Terroristen wie Hamas oder radikale Siedler. 

Die Schuldfrage wird uns hier nicht weiterbringen.

Um die letzten Eskalationen in Jerusalem in dem Viertel Sheich Jarrah so objektiv wie möglich darzulegen, bat ich die Integrationsforscherin Alina Knoflach von den Religionswissenschaften der Uni Salzburg, die sich längere Zeit in Israel aufgehalten hatte, mir die Hintergründe zu erläutern. Vorfälle der Zwangsräumungen von Palästinenser*innen sind ja keine Neuheit. Vor allem seit der Gründung des Staates Israels 1948 folgte eine schrittweise ethnische Säuberung. Um nur ein Beispiel zu nennen, wurden allein im Jahr 2009 siebenundsechzig Palästinenser*innen aus ihrem Zuhause vertrieben. Diese Vertriebenen bekamen ihre Häuser im Jahr 1956 von jordanischen Verwaltern, weil sie von anderen Teilen Jerusalems vertrieben wurden. Sie erhielten dazu nie eine Besitzurkunde. Das israelische Gericht entschied, diese Häuser israelischen Siedlern zu vermitteln.   Die Tatsache, dass die Palästinenser*innen ohne jegliche Perspektive gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und damit zu Obdachlosen werden, macht sie zu Flüchtlingen in ihrer Heimat. Die Annahme, dass die Palästinenser*innen ihre Häuser freiwillig verlassen, obwohl sich noch persönliche Gegenstände darin befinden und Fotos an den Wänden hängen, ist keine Seltenheit.

Dies ist nur ein Aspekt eines vielschichtigen Konfliktes. Wir können immer noch einen Schritt zurück gehen und die nie endende Ursachen- und Wirkungskette verfolgen. Die Schuldfrage wird uns hier nicht weiterbringen. Es sollte uns nicht beschäftigen, wer angefangen hat, sondern, wer zuerst aufhört? Sicher ist aber, dass die Vorgehensweise der politischen Machthaber weiterhin nicht zu einem beidseitigen Frieden beitragen wird. Wer Macht hat, hat auch Verantwortung. Und Israels Armee gehört zu den stärksten der Welt. Hingegen die Ohnmacht gegenüber dem eigenen Leben und Schicksal kränkt, macht krank und führt oft zu unberechenbaren Folgen.  Um der Gewaltspirale und den Aggressionen entgegenzuwirken, bedarf es nicht einer Reduzierung, sondern einer Zusprechung von Menschenrechten. Es geht dabei nicht um mehr oder weniger als das was jedem Menschen zusteht: Die grundlegende Menschenwürde zu wahren, wie Zugang zu sauberem Wasser, eine Staatsbürgerschaft, das gleiche Recht auf den Besitz und die Wahrung von persönlichen oder vererbten Eigentum, einen eigenen Flughafen, Anerkennung des Menschseins mit einer genauso langen Historischen Hintergrundsgeschichte,…

Wer möchte ein Leben lang in seine Heimat und in sein Zuhause investieren, um dann die Traumatisierung zu erleiden, diese verlassen zu müssen?    

Diese Perspektive findet im deutschsprachigen Raum kaum Platz. Aber ohne sie miteinzubeziehen, werden wesentliche Schritte in Richtung Frieden verwehrt. Und ganz wichtig ist es, sich bewusst zu machen, das was sich seit Jahren in Israel und Palästina abspielt, mittlerweile als Normalität wahrgenommen wird. Aber was in Israel und Palästina passiert ist nicht normal. 

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