Interview: "Darf ich mit meinem Sohn in der Straßenbahn auf Bosnisch sprechen?"

01. Juni 2021

Darf ich mit meinem Sohn in der Straßenbahn auf Bosnisch sprechen?Ist es mit 20 zu spät, meine Muttersprache Zazaki zu lernen?“ Die Redakteure Esra Gönülcan und Amar Rajković holen sich von der Expertin für Mehrsprachigkeit Zwetelina Ortega (rechts im Bild) Tipps für ihren Alltag.
 

Credit: Zoe Opratko
Credit: Zoe Opratko

AMAR RAJKOVIĆ: Wie viele Sprachen werden bei dir zu Hause gesprochen?
ZWETELINA ORTEGA: Bulgarisch, Spanisch und Deutsch. Meine Tochter
ist acht Jahre alt, mein Sohn sechs. Mit ihnen spreche ich Bulgarisch, mein Mann spricht mit ihnen Spanisch. Ich kommuniziere mit meinem Mann auf Spanisch. Die Kinder wiederum sprechen untereinander auf Deutsch.

Warum sollten Eltern ihre Kinder mehrsprachig erziehen?
Weil die Sprache der Eltern ihre eigene Erstsprache ist, in der sie Emotionen am besten vermitteln können. Das ist viel schwieriger, wenn man in einer Fremdsprache mit dem Kind redet, in der man nicht selbst sozialisiert wurde. Mit welchen Worten wurde ich als Kind getröstet oder mit welchen Liedern in den Schlaf gesungen? Das sind nicht nur Worte, sondern ganz wichtige Emotionen, die wir brauchen, um in der Welt anzukommen und Geborgenheit und Liebe zu spüren. Eine weitere Sprache öffnet uns Tür und Tor in eine andere Gesellschaft, eine andere Mentalität. Sie bestimmt, wie man die Welt wahrnimmt und interpretiert.

Als 12-Jähriger war es mir peinlich, mit meiner Mutter in der Bim auf Bosnisch zu reden. Wie kann man diese Beklemmung der eigenen Muttersprache gegenüber erklären?
Das hängt von der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Sprache ab. Sprachen wie Bosnisch, Serbisch, Türkisch werden direkt mit Menschen assoziiert, die kein hohes Bildungsniveau haben oder wirtschaftlich schwach sind. Überspitzt formuliert sind das die Sprachen der Bauarbeiter und der Putzfrauen. Diese Abwertung hast du als Kind mitbekommen. Das Abwerten der SprecherInnen führt zum Abwerten der Sprache. Es ist wichtig, dass wir den Kindern die Botschaft vermitteln, dass ihre Mehrsprachigkeit wertvoll ist. Das kann ich nicht vermitteln, wenn ich meinem Kind in meiner Erstsprache etwas ins Ohr flüstere, damit es ja keiner hört und komisch schaut. Jede Sprache ist wertvoll und wert gesprochen zu werden.

Ist das eine Form von latentem Sprachenrassismus?
Ja. Die Sprachen werden mit weniger prestigevollen SprecherInnen assoziiert. Ich habe das auch in der Praxis bei den Eltern beobachtet, die ihre Kinder mit Sprachen großziehen, die kein gesellschaftliches Prestige haben. Sie fragen mich, wie sie das in der Öffentlichkeit machen sollen. Ich verorte dabei die Angst, bei anderen Menschen schlecht anzukommen. Eine Mutter, die mit ihren Kindern Französisch oder Englisch spricht, stellt sich diese Frage nicht. Denselben Trugschluss erlebe ich auch bei PädagogInnen, die zu mir kommen. „Die türkischsprachige Mutter kann nach fünf Jahren immer noch kein Wort Deutsch. Wie gibt‘s denn das? Sie soll sich bitte anpassen. Integrieren. Sie soll schnell Deutsch lernen.“Bei einer englischsprachigen Mutter hört sich das plötzlich ganz anders an: „Das ist ja gar kein Problem. Ich kann mich ja mit ihr auch gerne auf Englisch unterhalten.“

 

„EINE WEITERE SPRACHE ÖFFNET UNS TÜR UND TOR IN EINE ANDERE GESELLSCHAFT, EINE ANDERE MENTALITÄT“

 

Gibt es einen Zeitraum, der sich für das Sprachenlernen besonders eignet?
In Wirklichkeit entwickeln wir uns ein Leben lang. Aber im Laufe der ersten zehn Jahre entwickeln wir uns sprachlich anders, weil man als Kind intuitiv und spielerisch lernt. Den Zeitabschnitt, in dem eine Sprache besonders effektiv erworben werden kann, nennt man „Critical Period“, der dauert ungefähr bis zur Pubertät. Bis dahin können wir Muttersprachenniveau in verschiedenen Sprachen erreichen.

ESRA GÖNÜLCAN: Meine Eltern sind Kurden aus der Türkei. Wir haben zu Hause vorrangig Türkisch gesprochen. Meine eigentliche Muttersprache „Zazaki“ kam dabei zu kurz. Wie kann ich als 20-Jährige meine Muttersprache neu erlernen?
Natürlich ist es wichtig, zu sprechen und zu versuchen, die Sprache aktiv zu verwenden. Wenn du aber keinen aktiven Wortschatz hast, dann wirst du auch nicht sprechen können. Das heißt, du musst einen aktiven Wortschatz aufbauen und damit man sprechen kann, muss man Sätze bauen und dafür braucht man die Grammatik. Das ist das Problem, wenn man erwachsen ist, dann muss das alles parallel passieren, und zwar in einem aktiven Lernprozess. Hierfür eignen sich Kurse gut, denn im Regelfall sind Eltern keine PädagogInnen.

ESRA GÖNÜLCAN: Ein Problem ist, dass es für „Zazaki“ wenig Literatur gibt und die regionalen Unterschiede groß sind.
Oft geben kurdische Eltern ihre Sprache an die Kinder nicht weiter, weil sie schon die Unterdrückung der Minderheitensprache im Ursprungsland erfahren haben. Dann ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich gering, dass diese Sprache in Österreich an die Kinder weitergegeben wird. Das Problem bei „Zazaki“ ist, dass sie keine verschriftlichte Sprache ist und dadurch das Erlernen dieser Sprache umso schwerer fällt.

Wie kann man Kinder motivieren, die nicht-deutsche Familiensprache zu sprechen?
Es ist eine Herausforderung, weil Deutsch irgendwann sehr dominant wird. Verschiedene Menschen wie die Oma oder der Freund deiner Schwester, die die gleiche Sprache sprechen, motivieren die Kinder, weil die Kinder merken: „Ah, nicht nur Papa und Mama sprechen diese Sprache, sondern auch andere Menschen.“ Es ist entscheidend, dass man wirklich konsequent bleibt. Als Hilfe könnten Eltern Medien wie Hörbücher, Bücher und Filme einsetzen. Es ist wichtig, sich dabei nicht zu verkrampfen und das Kind mit Lob und Anerkennung zu motivieren. Auch Reisen in die Heimatländer können dabei helfen. Das Kind merkt dann, dass diese Sprache von allen gesprochen wird, und wertet sie auf.

Credit: Zoe Opratko
Credit: Zoe Opratko

AMAR RAJKOVIĆ: Darf man als Elternteil mit den Kindern auch zwischen den Sprachen switchen?
Es gibt das Prinzip „Eine Person, eine Sprache“ und das ist absolut sinnvoll. Durch diese Konsequenz hat die Sprache, die von der Umgebung nicht gesprochen wird, erst überhaupt eine Chance, sich beim Kind zu festigen. Dennoch ist das Alltagsleben nicht schwarz-weiß. Manchmal, wenn ich meiner Tochter bei den Schulaufgaben helfe, dann erkläre ich ihr die Dinge auf Deutsch, damit sie nicht noch einmal den Umweg machen muss.

Du bietest Seminare und Kurse für mehrsprachige Eltern und PädagogInnen an, die mit vielen Sprachen im Klassenzimmer „konfrontiert“ sind. Wie läuft das Geschäft trotz Corona?
Überraschenderweise gut.

Warum überraschenderweise?
Ich bin überrascht, weil wir seit Jahrzehnten in einer sprachlich vielfältigen Gesellschaft leben und diese Tatsache sollte schon längst in die Ausbildung der PädagogInnen eingeflossen sein. Das tat es aber nicht und die PädagogInnen stehen vor einer mehrsprachigen Klasse. Ich höre oft, dass sie nicht wissen, wie sie mit der Mehrsprachigkeit umgehen sollen.

Das österreichische Bildungssystem hinkt in puncto Mehrsprachigkeitsförderung hinterher?
Es hinkt nicht nur, es fährt einen Rollator, weil die politischen Maßnahmen nur einseitig und allein auf die Förderung der deutschen Sprache fokussiert sind. Hierbei werden die Erstsprachen ausgeblendet. Nach dem Motto: Kannst du gut Deutsch, bist du gut genug für dieses Schulsystem. Mit der Einführung von Deutschförderklassen und dem Deutsch- Eingangstest in das Bildungssystem belastet man die Eltern und die nicht ausreichend vorbereiteten PädagogInnen zusätzlich. Das ist schrecklich, wenn die Kinder diesen Druck mitbekommen und sich als unzureichend fühlen.

Wie lautet die von PädagogInnen am häufigsten gestellte Frage?
„Wie gehe ich damit um, wenn Kinder untereinander eine andere Sprache sprechen?“, bzw. „Wie kann ich das unterbinden?“.

Was ist deine Antwort?
Das Ziel ist, Möglichkeiten zu eröffnen, in denen die Kinder ihre Sprache verwenden können. Wie kann ich mit ihnen auf eine wertschätzende Art und Weise diese Arbeitssprache Deutsch vereinbaren, wenn Sie für meinen Unterricht wichtig ist? Wenn ich mit der Mehrsprachigkeit didaktisch arbeite, gelingt es mir besser, als wenn ich mich nur auf Deutsch begrenze. Es ist kein entweder oder, sondern es ist beides wichtig und beides kann miteinander funktionieren. Die Sprachen der Kinder müssen dafür zugelassen werden, dann kann ich diese Mehrsprachigkeit kanalisieren und mit ihr arbeiten. Wenn ich nur Verbote und Gebote mache, dann gibt es Widerstand und Ängste.

Gibt es konkrete didaktische Anwendungsbeispiele, um mehrsprachige Kinder und Jugendliche zu fördern?
Es ist sinnvoll, im Unterricht mit allen Sprachkompetenzen der Kinder zu arbeiten und als Lehrperson die Sprachbiografie der Kinder in den Unterricht einzubinden. Wenn die Kinder im Unterricht Vorträge halten, könnten sie das zum Beispiel zwischendurch auch in ihren Erstsprachen machen. Ich habe schon einmal einem Kind, dem es schwerfiel, auf Deutsch ein Referat zu halten, den Auftrag gegeben den Vortragstext zuerst auf seiner Erstsprache zu schreiben. Im Anschluss hat er versucht das Ganze auf Deutsch zu erzählen. Auf diesem Weg haben wir Deutsch erreicht und Blockaden im Kopf gelöst. Somit hat er sich getraut, das Referat zu halten, und hat auch bemerkt, dass er diesen Text auch auf Deutsch schreiben könnte.

Mein Sohn wächst mit Deutsch, Bosnisch und Türkisch auf. Das bedeutet, dass er die Sprache von rund einer halben Million Menschen in Wien spricht. Wieso wird er eines Tages Französisch und nicht Türkisch oder Bosnisch in der Schule lernen?
Frage nicht mich! (lächelt) Wieso gibt es diese Fächer in der Schule nicht? Warum lernen PädagogInnen in ihrer Ausbildung nicht eine dieser Sprachen? Dann würden sie auch in der Klasse besser zurechtkommen. Ich habe mir beispielsweise Bücher geholt, die Sprachen vergleichen, um zu verstehen, wie verschiedene Sprachen funktionieren. Somit kann man Kinder in ihrem Deutscherwerb besser begleiten. Ich habe nicht 40 Sprachen gelernt, aber es genügt, wenn ich verstehe, wie eine Sprache aufgebaut ist.

 

INFOBOX: Sprache ist nicht gleich Sprache

Der Ausdruck Muttersprache macht eine starke Gedankenverbindung mit der Mutter, obwohl die Sprache vom Vater des Kindes auch die Muttersprache sein kann. Der Ausdruck gilt in der Sprachwissenschaft deswegen als überholt. Stattdessen verwendet man den Begriff Erstsprache. Das ist die Sprache, mit der das Kind ab seinem Lebensanfang in Berührung kommt und mit dieser sozialisiert wird. Ein Kind kann auch mehrere Erstsprachen haben. Beispiel: Wenn ein Kind in Österreich geboren ist, zu Hause Rumänisch spricht und mit 1,5 Jahren in den Kindergarten geht, dann spricht man von doppeltem Erstspracherwerb Rumänisch und Deutsch. Wenn ein vierjähriges Kind, das als Erstsprache Rumänisch gelernt hat, nach Österreich kommt, dann sprechen wir von Deutsch als Zweitsprache. Je älter das Kind ist, desto eher ist Deutsch die Zweitsprache. Die Amtssprache ist die offizielle Sprache eines Staates, die in Ämtern und von den Behörden gesprochen wird. Die Begegnungssprachen sind Sprachen, die innerhalb einer Gesellschaft integriert sind. Denn viele Menschen sprechen in ihrem Alltag neben der Amtssprache eine oder mehrere andere Sprachen. In Österreich haben viele Kinder und Jugendliche andere Erstsprachen als Deutsch, von A wie armenisch bis Z wie Zazaki.

 

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