Rojava/Nord-Ostsyrien: Krankenhäuser von der Stromversorgung abgeschnitten

13. Oktober 2023

 

Seit Donnerstag letzter Woche bombardiert die türkische Luftwaffe die Region Rojava im kurdisch-kontrollierten Nordosten Syriens. Ziel der Angriffe, die auch über das Wochenende andauerten, waren vor allem die zivile Infrastruktur der autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES). Es gab bereits dutzende Tote, darunter mindestens zehn Zivilist:innen und zwei Kinder. Neben Schulen und Krankenhäusern traf es vor allem die Strom- und Energieversorgung in der Region, das Elektrizitätswerk Suwediya, sowie Verteilerstationen in Hasakah und anderen Städten, die durch Drohnenangriffe außer Betrieb gesetzt wurden.

 

von Özben Önal 

 

 

Allein in Hasakah wohnen insgesamt 800.000 Menschen, die nun seit einer Woche ohne Strom- und Wasserversorgung sind. Anita Starosta von medico international, einer deutschen Hilfsorganisation mit Partner:innen, die vor Ort im Einsatz sind, spricht von großflächiger Zerstörung der Gesundheitseinrichtungen. Die Krankenhäuser, die noch stehen, seien seit Tagen von der Stromversorgung abgeschnitten. “Unsere Partner:innen vom kurdischen roten Halbmond versuchen zwar Nothilfe zu leisten, aber die Situation ist prekär”. 

Die türkische Regierung hingegen behauptet, nur Standorte kurdischer Sicherheitseinrichtungen angegriffen zu haben. Grund dafür sei der Anschlag, der sich vor zwei Wochen in Ankara ereignete. Dabei wurden laut türkischen Angaben die beiden Attentäter getötet und zwei Polizisten leicht verletzt . Ein Zweig der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) bekannte sich zu dem Anschlag. Der Luftangriff der Türkei sei laut türkischen Angaben die Reaktion auf den Anschlag, die beiden Attentäter seien im Nordosten Syriens ausgebildet worden und über die Grenze in die Türkei gelangt. Die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) wiesen dies zurück. Die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) sind Bestandteil der Demokratischen Kräfte Syriens und kämpfen bereits seit Jahren gegen den Islamischen Staat. In der Türkei werden sie als syrischer Ableger der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gesehen und als Terrororganisation eingestuft. Unter diesem Vorwand setzt Ankara bereits seit 2016 Bodentruppen vor Ort ein, um die kurdischen Kräfte zu vertreiben, auch in Zusammenarbeit mit islamistischen Milizen in Syrien. Zuletzt gab es im November 2022 zweiwöchige Drohnenangriffe auf die gesamte Region der autonomen Selbstverwaltung in Nord-Ostsyrien, bei denen bereits ein Großteil der Infrastruktur zerstört wurde, die etwa zwei Millionen Menschen in der Region versorgt. 

 

Auch Geflüchtetenunterkünfte sind betroffen

Neben Angriffen auf zivile Dörfer gab es auch Drohneneinschläge in der Nähe von Geflüchtetenunterkünften, in denen vor allem vor dem Islamischen Staat geflüchtete und vertriebene Menschen unterkommen. Das Informations- und Dokumentationszentrum der YPJ (Frauen Kampfverbände der Volksverteidigungseinheiten YPG), berichtet außerdem, dass viele der lokalen Hilfsorganisationen, die für die Geflüchtetencamps zuständig sind, die Region verlassen mussten und ihre Büros stillgelegten. Betroffen von den Angriffen ist auch ein Waisenhaus in Hasakah, in dem vorrangig Kinder von Jesid:innen Zuflucht finden, die von IS-Kämpfern vergewaltigt wurden. “Besonders die Kinder sind schwer traumatisiert durch den Krieg, den sie bereits miterlebt haben. Durch die Angriffe mussten Pädagog:innen vor Ort sie evakuieren und in Sicherheit bringen, sie erleben durch die Angriffe ständige Retraumatisierung”, erzählt Starosta.

Vorgestern teilte Präsident Erdoğan mit, die erste Phase der “Operation” sei abgeschlossen.  Was das konkret für die Bevölkerung Rojavas bedeutet, ist unklar. “Es gibt vereinzelt noch Artelleriebeschüsse und es wird gekämpft, die große Offensive ist vorerst vorbei. Wir wissen allerdings nicht, ob noch eine Bodenoffensive folgt oder weitere Angriffe. Unsere Helfer:innen vor Ort berichten, die Einstellung der Luftangriffe könnte daran liegen, dass der Großteil der Infrastruktur bereits großflächig zerstört und die humanitäre Hilfe und Versorgung der Bevölkerung nahezu unmöglich geworden ist”, sagt Anita Starosta von medico international.

 

Fehlende Hilfe und mediale Aufmerksamkeit

Was es jetzt brauche, sei internationale Aufmerksamkeit und vor allem Hilfe beim Wiederaufbau der Infrastruktur. Da die Schäden im Milliardenbereich sind, könne die Selbstverwaltung allein das nicht tragen, zudem seien benötigte Ersatzteile nicht verfügbar und müssten aus dem Ausland eingebracht werden. Auch das Informations- und Dokumentationszentrum der YPJ macht auf die Dringlichkeit aufmerksam. “Der Weg für eine politische Lösung muss wiedereröffnet werden, es ist wichtig, dass alle demokratischen, intellektuellen und zivilen Institutionen sich gegen den Angriffskrieg der Türkei aussprechen und Druck machen, damit es keine weitere wirtschaftliche und militärische Unterstützung für den NATO Partner gibt. Es muss objektiv über die Situation berichtet werden.” Bisher gibt es kaum internationale Berichterstattung, auch keine öffentliche Verurteilung der Angriffe seitens Politiker:innen. Angesichts der humanitären Katastrophe, die in der Region herrscht und zunehmend prekärer wird, bedeutet weiterhin fehlende internationale Hilfe und Aufmerksamkeit, dass ein Überleben der Zivilbevölkerung vor Ort langfristig nicht mehr gesichert werden kann. Denn neben Gaswerk und -verteilern wurden auch Ölfelder und behelfsmäßige Raffinerien getroffen, dadurch ist die Dieselversorgung nicht mehr gesichert, die zum Heizen benötigt wird. Ohne Gas können die Menschen vor Ort nicht kochen. “Schon vor den Angriffen musste man, wenn die Gasflasche zum Kochen leer war, eine Woche auf eine neue warten”, sagt Starosta. Der Region drohe ein Exodus. “Wir können noch nicht sagen, was das für den Winter bedeutet.” Familien könnten gezwungen sein, die Region zu verlassen, sodass es zu großen Fluchtbewegungen kommen könne.

 

Anmelden & Mitreden

1 + 5 =
Bitte löse die Rechnung