Zwischen Schweigen und Ohnmacht : Warum Opfer sexualisierter Gewalt ihre Täter nicht anzeigen

14. April 2023

Illustration: Anna Lumaca
Illustration: Anna Lumaca

Anzeigen, oder nicht? Und selbst wenn doch – wird dann geholfen? Viele Opfer von sexueller Gewalt oder (Cyber-)Stalking haben große Hemmungen davor, Sexualstraftaten bei der Polizei zu melden. Woran das liegt, erzählen die Betroffenen Laura, Sara, Maria und Dilan selbst.

Von Emilija Ilić, Illustrationen: Anna Lumaca

Auf dem Nachhauseweg von der Schule setzte sich im Bus ein erwachsener Mann neben die damals 14-jährige Laura*, nestelte an seiner Hose herum und präsentierte ihr seinen erigierten Penis. „Ich saß ganz hinten im Bus und konnte somit nicht an ihm vorbei. Das war genau zur Rushhour – so viele Leute haben es mitbekommen und niemand hat etwas gesagt, so die heute 23-jährige. Nach großer Überwindung erzählte Laura ihrer Mutter von dem Vorfall und ging mit ihr zusammen zur nächsten Polizeistation im 19. Wiener Gemeindebezirk. Die Befragung mit der zuständigen Polizistin hat sie nachhaltig verstört. „Sie hat mir richtig unangenehme Fragen gestellt – ob sein Glied von Anfang an steif gewesen wäre, ob er masturbiert hätte, ob das wegen mir gewesen sei und ob er mich dabei angefasst hätte. Das konnte ich alles nicht klar beantworten und die Polizistin gab mir so das Gefühl, dass ich gerade aus einer Mücke einen Elefanten machte. Sie erklärte mir, dass ich zwar Anzeige erstatten könnte, diese jedoch wahrscheinlich keine Auswirkungen hätte und es für sie nur mühsam wäre, diesen Fall nun zu bearbeiten.“ Laura fühlte sich abgewiesen.  „Mir wurde schon als junges Mädchen vermittelt, dass es in Ordnung ist, wenn ein erwachsener Mann neben mir seinen erregten Penis in der Öffentlichkeit zeigt.“ Die Erfahrung, im öffentlichen Raum sexuell belästigt zu werden, machte Laura nicht nur einmal – bei der Polizei angezeigt hat sie die Vorfälle zwar immer, aber „Hilfe oder Schutz erwarte ich mir nie. Nach meinen Erfahrungen habe ich nicht das Gefühl, als wäre die Bereitschaft dazu da.

Täglich melden sich Frauen bei der Frauenhelpline und berichten von Grenzüberschreitungen, die sie nicht melden möchten. Die Scham und Angst vor der Anzeige sei zu groß. Laut dem BAFÖ (Bund Autonome Frauenberatungsstellen bei sexueller Gewalt Österreich) sind es vor allem schlechte Erfahrungen anderer Opfer, der geringe Anteil an Verurteilungen sowie lange und belastende Ermittlungsverfahren, die Frauen daran hindern, Sexualstraftaten anzuzeigen. Die Zahl der angezeigten Sexualdelikte in Österreich lässt sich schwer greifen – wie internationale Studien berichten, ist die Dunkelziffer extrem hoch. Rund 15.000 Betretungs- und Annäherungsverbote wurden im letzten Jahr von der Polizei nach einem Gewaltvorfall verhängt. Im Jahr 2022 wurden 78.836 Gewaltdelikte zur Anzeige gebracht. Im Vergleich zu 2021 sind diese um rund 11.400 gestiegen. Darunter fallen aber nur strafbare Handlungen gegen Leib und Leben, gegen die Freiheit und gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung. Weitere Sexualstraftaten wie Grooming, Cyber-Stalking oder sexuelle Belästigung werden viel seltener strafrechtlich verfolgt. BAFÖ kritisiert die fehlenden und nicht aktuellen Studien zu Sexualdelikten in Österreich stark.

Sara* hat ihren Täter nie angezeigt – es war ihr eigener Freund. „Für ihn war Sex der einzige Weg, wie wir uns nach einem Streit vertragen konnten. Ihm war egal, ob ich völlig aufgelöst war oder gerade keine Lust hatte. Er meinte immer, dass ich ihn nicht lieben würde, wenn ich nicht mit ihm schlafe. Ich tat es jedes Mal, bis ich einmal klar und deutlich „Nein“ sagte. Er machte trotzdem weiter.“ Sara* war 15 Jahre alt, als ihr damaliger Partner sie vergewaltigte. Diese Tat anzuzeigen, wollte sie bewusst nie. Viel zu groß war die Angst, sich vor möglicherweise sehr unsensiblen Beamten erklären und rechtfertigen zu müssen. Viel zu groß war die Angst, für immer als das „Opfer“ gesehen zu werden. „Wenn schon Fälle, bei denen es eindeutig eine Vergewaltigung war, ohne Konsequenzen für den Täter abgeschlossen wurden – wer sollte mir denn glauben, dass mich mein eigener Freund vergewaltigt hatte? Ich wusste auch nicht, wie ich das der Polizei hätte beweisen sollen, erzählt sie heute, sechs Jahre später.

 

Illustration: Anna Lumaca
Illustration: Anna Lumaca

 

Der soziale Druck

Auch die 23-jährige Maria* musste schon mehrere grenzüberschreitende Vorfälle erleben, von denen sie sich bis heute tiefsitzend geschädigt fühlt. Aus Angst, ausgeschlossen zu werden und als unglaubwürdig zu gelten, erzählte sie ihrem Umfeld lange nichts von ihrem Trauma. In ihrem siebzehnten Lebensjahr wurde sie, damals stark alkoholisiert, auf einer Party vergewaltigt. Kürzlich wurde sie erneut von einem Bekannten ihrer Freundesgruppe sexuell genötigt – in ihren eigenen vier Wänden. Dieser Vorfall brachte das Fass zum Überlaufen, sie befindet sich in Psychotherapie, um die Geschehnisse aufzuarbeiten. Der Weg zur Polizei war für sie trotzdem keine Option. „Einerseits habe ich, wie viele andere Frauen, den Vorfall zuerst kleingeredet. Ich habe mir selbst die Schuld dafür gegeben, dass ich es so weit kommen lassen habe. Andererseits ist in solchen Situationen der soziale Druck extrem hoch. Wird man mir glauben? Was werden die Leute über mich reden? Wie oft habe ich schon von Freund:innen gehört, wie unsensibel sie von Polizist:innen behandelt worden waren. So etwas möchte man so schnell wie möglich abschließen, ich hatte einfach keine Kraft, diese belastenden Ermittlungsverfahren durchzumachen.“ Sowohl Maria als auch Sara sehen den gesellschaftlichen Umgang mit sexuellen Übergriffen sehr problematisch. Frauen wird immer suggeriert, dass erst das Worst-Case-Szenario wie „Mann vergewaltigt Frau nachts im Park“ als Vergewaltigung und Straftat gilt. Vergewaltigung durch den Beziehungspartner oder durch eine nahestehende Person wird jedoch nicht ernst genommen, oder gar als nicht existent abgezeichnet.

 

Ausgeliefert und allein gelassen

Sexuelle Übergriffe bei der Polizei zu melden, ist zwecks Dokumentation wichtig. Aber: Eine Meldung allein führt nicht immer zu einer Verurteilung oder Strafe für den Täter. Doch so haben Behörden wenigstens eine Chance, Straftäter zu identifizieren und Straftaten aufklären zu können. Oft kann die Polizei durch die Meldung und einer erfolgreichen Identifizierung des potenziellen Wiederholungstäters, weitere Straftaten verhindern. Laut BAFÖ kommt es aber regelmäßig zu Vorfällen, in denen das Melden eines Übergriffs keine Konsequenzen für den Täter hat. Häufig kommt es zur Täter-Opfer-Umkehr, bei der Polizist:innen bisweilen den Opfern die Schuld geben. Doch es gibt auch sehr engagierte und beeindruckende Fälle von Beamt:innen, die sehr professionell und kompetent mit Opfern von Sexualdelikten umgehen. „Es kommt sehr darauf an, wer die zuständige Person ist; inwieweit sie für solche Fälle sensibilisiert und ausgebildet ist. Das gilt auch für die Staatsanwaltschaft, bestätigt Ursula Kussyk, Obfrau des BAFÖ. Auf die Nachfrage beim Innenministerium, inwiefern Beamt:innen im Umgang mit Opfern von Sexualdelikten geschult würden, wird auf ein für Außenbedienstete verpflichtendes E-Learning-Modul, 60 aufgestockte Landestrainer im Bereich „Gewalt in der Privatsphäre“ (GiP) und einem Wiener GiP-Support hingewiesen – all das sensibilisiert Beamt:innen für das Thema. Diese Tools wurden überwiegend im Rahmen der Novellierung des Gewaltschutzgesetzes 2019 eingeführt. In Hinblick auf die Kritik vieler Frauen, verweist das Innenministerium auf den Dachverband der österreichischen Gewaltschutzeinrichtungen. Dieser sieht die Kooperation zwischen Polizei und Gewaltschutzzentren als recht eng und ausreichend.

 

Grauzonen, auch im Internet

Nicht nur im öffentlichen Raum, sondern auch im Internet können übergriffige Situationen entstehen. Die kurdischstämmige Dilan* wurde von einem Freund der Familie, der doppelt so alt war wie sie, gestalkt. Von der Polizei fühlte sie sich zwar gut unterstützt und beraten, jedoch hatten die Behörden keinen klaren rechtlichen Anlass dafür, die Taten des Mannes zu unterbinden. „Der Stalker bewegte sich immer nur in einem Rahmen, der gesetzlich nicht problematisch war. Er bedrohte mich nie, er beleidigte mich auch nicht. Sein Ziel war es, eine Nähe zu mir zu suggerieren, sodass mein Umfeld dachte, dass ich neben meinem Ehemann eine Affäre hätte. In der kurdischen Community hätte dies meinem Image als Frau und dem meiner Familie enorm geschadet, erzählt Dilan. Seit ihrer Kindheit kannte sie den Mann, der ihr die nächsten Monate zur Hölle machen sollte. Ihr Stalker überschüttete sie online mit Komplimenten, erstellte immer wieder neue Profile, um sie zu verfolgen, und terrorisierte sie und ihr Umfeld mit Anrufen. Im Internet gelten andere Regeln – die Polizei ist rechtlich eingeschränkt. Anonymität, Plattformen als Dritte und fehlende Gesetze erschweren die komplexen Ermittlungsarbeiten. BAFÖ hat dazu auch die Erfahrung gemacht, dass es der Polizei vor allem im Cyberraum an technischem Know-how und neuster Technik mangelt.

 

Der Hilferuf ins Leere

Hilferufe von Frauen werden oft nicht ernst genommen. Laura, Sara, Maria und Dilan sind nur ein paar von Millionen Frauen weltweit, die tagtäglich grenzüberschreitenden Situationen ausgesetzt sind und sich nicht geschützt fühlen. Es fehlt auch um Aufklärung – selten werden Frauen über diese Themen informiert. Die Konsequenz: Sie realisieren das Vergehen erst spät, geben sich selbst die Schuld und schämen sich, darüber zu sprechen. Frauen, die Lauras schlechte Erfahrungen mit Polizist:innen teilen, muss mehr geschultes und sensibles Personal bereitgestellt werden. Junge Frauen, wie Sara damals, müssen darüber aufgeklärt werden, dass Frauen keinem Mann Sex „schulden; dass auch, wenn man in einer Beziehung ist, Vergewaltigungen stattfinden können. Frauen wie Maria müssen darüber aufgeklärt werden, dass es Fraueneinrichtungen gibt, die Prozessbegleitung anbieten und sie auf dem Weg zur Anzeige unterstützen. Gesetzeslücken im Internet, von denen Dilan und so viele andere Frauen betroffen sind, muss die Justiz dringend schließen. In jedem Fall geht es um die Sicherheit von Frauen, die sich allein gelassen und ungeschützt fühlen. 

 

* Die Namen wurden geändert

Das Innenministerium konnte zu den einzelnen Fällen, die in dem Text beschrieben werden, keine Stellung beziehen, da die Opfer zu ihrem eigenen Schutz anonymisiert wurden. Die Namen sind der Redaktion bekannt. 

 

Welche Möglichkeiten gibt es für Frauen? 

Frauenhelpline gegen Gewalt 

0800 222 555

Unterstützung bei sexueller Gewalt: bei BAFÖ 

Unterstützung bei jeglichen Anliegen: Rat auf Draht 147

Frauenberatung 

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