Das Leben als Übernächster

„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, in diesem Wortlaut steht es acht Mal in der Bibel, der wichtigsten religiösen Textsammlung des Christentums. Ich habe erfahren dürfen, dass wohl nicht jeder Mensch die „richtigen“ Voraussetzung hat, um sich als sogenannte*r Nächste*r zu qualifizieren.

Ich – das meint mich: Sarah, 20 Jahre alt, in Wien zur Schule gegangen und praktisch aufgewachsen, als Tochter von zwei politischen, grünen Aktivisten, lebe mein ganzes Leben lang unter dem Motto „Kein Mensch ist illegal“. Das ist meine persönliche Definition von Nächstenliebe.

Auch hab ich die Bibel durchaus immer als wertvolle Richtlinie gesehen, die dort angeführten moralischen und ethischen Grundsätze unterscheiden sich praktisch nicht von der Menschenrechtskonvention, könnten gerade in unserer Welt der zunehmenden Ungerechtigkeit, der sich öffnenden Einkommens- und Vermögensscheren, der Finanzspekulation mit Grundnahrungsmitteln und vielem anderem mehr, eine gute Orientierung sein.

Sie entscheiden, was richtig und falsch ist.
Sie entscheiden, was richtig und falsch ist.

Aus dieser Situation heraus beschloss ich mich auch für ein soziales Jahr bei einer geistlichen Gemeinschaft der katholischen Kirche. Obdachlosenarbeit, Integration von Geflüchteten, Gestaltung und Revolutionierung der Jugendkirche sollten auf dem Tagesprogramm stehen. Doch was als Traum von Vielfalt begann, entpuppte sich rasch als verdrehte Welt. Jegliche andere Form der Sexualität, welche nicht dem „katholische Bild“ der Familie entsprach, wurde - im wahrsten Sinne des Wortes – verteufelt, die Evolution gibt es nicht, genauso wenig wie Toleranz gegenüber anderen Religionen oder Gleichberechtigung der Geschlechter. Jetzt weiß ich wohl was ein Kulturschock ist. 

Die plötzliche Normalität der Abnormalität machte mich schnell zu der Person die „anders“ ist. Die Challenge „Bekehre sie“ hat niemand geschafft, aber jede*r versucht. Meine Argumentation wurde vom Gegenüber schnell beantwortet mit „Ich bete dafür, dass du auch auf den richtigen Weg kommst“ oder „Ich weiß es auch nicht, aber ich muss gehorsam sein“. Wen lässt es nicht bitter aufstoßen bei den Wörtern „gehorsam“ oder „richtiger Weg“? Solche Sätze von jungen Erwachsenen zu hören, die jährlich ihren „Zehent“ (biblischer Herkunft; Meint: 10% des jährlichen Einkommens einer geistlichen Institution zu überlassen) dieser Gemeinschaft überlassen, die Akzeptanz und Liebe predigt, doch Exklusivität und Überheblichkeit lebt, hat die Grenze zur geistlichen Manipulation schon überschritten und wirkt zusätzlich dem Traum einer friedlichen, multikulturellen Welt entgegen, durch eine – meiner Meinung nach – klare Missinterpretation der Bibel. Diese erfüllt wohl den einzigen Zweck das Klischee zu bestätigen und direkt auf die gesamte katholische Kirche zu beziehen. 

Und wenn wir ehrlich sind: Wer bin ich, um zu entscheiden wer das „Recht“ hat, nächste*r zu sein? 

Sarah ist 20 Jahre alt und hat gerade ein freiwilliges, soziales Jahr absolviert.

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