Stanišić statt Schiller

Schullektüre

Goethe, Schlink, Handke- Der in der Schule herrschende Literaturkanon ist vor allem männlich, autochthon und weiß. Dabei ist Literatur identitätsstiftend, wer sich nicht repräsentiert fühlt hat schnell keine Lust mehr die Schullektüre zu lesen.

Noch nie hatte ich mich so allein im Hörsaal inmitten von hunderten von anderen Student*innen gefühlt. „Sein Schreibstil ist so schön, da muss man sich doch nicht auf diese Jugoslawiengeschichten konzentrieren.“ Das waren die Worte meiner Studienkollegin, nachdem Peter Handke Ende letzten Jahres den Literaturnobelpreis gewonnen hatte.

Mit den „Jugoslawiengeschichten“ meint sie den Genozid von Srebrenica, in dem mehr als 8.000 bosnische Muslime ermordet wurden, aber auch andere Kriegsverbrechen im Zuge des Bosnienkriegs der 1990er Jahre, die Handke in seinen Werken relativiert. So fragt er in „Gerechtigkeit für Serbien“: „Ist es erwiesen, dass die beiden Anschläge auf Markale, den Markt von Sarajevo, wirklich die Untat bosnischer Serben waren (...)?" Was für Handke ein zweifelhaftes Geschehen ist, war für meinen Vater Realität. Nur wenige Minuten bevor 1994 auf diesen Markt Granaten fielen, war er dort noch einkaufen. Wäre er eine Minute länger geblieben, wäre er jetzt nicht mehr hier. Dass jene Ereignisse der Grund sind, warum meine Eltern nach Österreich geflohen sind und ich hier geboren wurde, macht Aussagen wie die meiner Studienkollegin noch schmerzhafter.

Hauptsache die Sprache ist schön

Handkes Auszeichnung und die mangelnde Auseinandersetzung damit zeigen die Bereitschaft in der Literaturszene, Sichtweisen und Erfahrungen marginalisierter Gruppen unter den Teppich zu kehren, zugunsten von ästhetischer Form und qualitativer Sprache. Als Rechtfertigung dafür, Werke wie die von Goethe und Peter Handke in den Literaturkanon von Schulen aufzunehmen, wird häufig genau dieselbe Argumentation benutzt, von der auch meine Studienkollegin überzeugt war. Solange die Sprache schön ist, ist es egal, wenn Goethe seine Frauenfigur Gretchen als naives und hilfloses Mädchen darstellt, deren Schicksal schon für sie von den Männern in ihrem Leben vorbestimmt ist. Oder eben wenn Handke Genozid verharmlost.

Das soll nicht heißen, dass wir Werke von Goethe oder Schiller aus dem Kanon streichen sollen. Ich habe selber gerne solche Klassiker gelesen, sonst hätte ich mich nicht für das Studium der Literaturwissenschaft entschieden. Stattdessen sollten die Schullektüren diverser sein, nicht nur was den Hintergrund der Autor*innen angeht, sondern auch den der Protagonist*innen. Mehr Rafik Schami, Toni Morrison, Akwaeke Emezi, Saša Stanišić. Mehr weibliche, migrantische und nicht- weiße Autor*innen, die auch einmal andere Perspektiven darstellen als die des weißen, privilegierten und meistens männlichen cis-Teenagers, der sein Coming- of- Age im Sommer am Pool seines Elternhauses erlebt.

Heimat in der Literatur

Es gibt vom Bildungsministerium keine vorgeschriebenen Pflichtlektüren, warum also liest in Österreich jede*r Schüler*in jahrzehntelang dieselben Bücher im Unterricht? Die Klassenzimmer sind divers, wann sind es die Lektüren endlich auch? Bis auf ein paar wenige Ausnahmen stehen immer dieselben Namen und Titel auf den Leselisten. So verlieren vor allem Jugendliche, die sich in den Geschichten nicht wiederfinden, die Lust am Lesen. Sie fühlen sich nicht repräsentiert, finden keinen persönlichen Zugang zu der für sie ausgewählten Lektüre.

Meine Heimat ist die Literatur. In Geschichten fühle ich mich zuhause, Literatur war schon immer ein fester Bestandteil meiner Identität. In meiner Freizeit las ich ständig und als mir die Geschichten ausgingen, begann ich, selber welche zu schreiben. Früher war es mein größter Traum, selber einmal Schriftstellerin zu werden, dann sah ich die Namen der Autor*innen, dessen Texte wir in der Schule lesen mussten, und mein Traum rückte in weite Ferne. Ich merkte, dass kein einziger Name auch nur annähernd so klang wie meiner. Ich will nicht, dass es anderen jungen Menschen mit Migrationshintergrund genauso geht.

Anesa ist 19 Jahre alt und studiert Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien. 

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