„Es ist ein Minenfeld, irgendwann treten wir drauf“ – Die stille Zwangsmobilmachung von Tschetschenen in Russland

23. September 2022

Während Russland offiziell eine Teilmobilmachung verkündet hat, werden in der Teilrepublik Tschetschenien junge Männer willkürlich aus ihren Wohnungen gezerrt, um an der Front zu kämpfen – für Putin, der ihr Volk seit Jahrzehnten unterdrückt und bekämpft. Unter ihnen ist auch Hamzat, der aus Österreich abgeschoben wurde und sich gerade auf der Flucht befindet.

„Sie holen willkürlich Männer aus den Wohnungen und nehmen sie mit“ Hamzat befindet sich gerade auf der Flucht. Vor fünf Tagen hat er seinen Einberufungsbefehl erhalten, um für Kadyrow und somit für Putin in der Ukraine an der Front zu kämpfen. Der 21-Jährige Tschetschene wechselt seit fünf Tagen immer wieder seinen Aufenthaltsort: Mal findet er bei Verwandten Unterschlupf, mal wo anders. Er lebt in der Teilrepublik Tschetschenien der Russischen Föderation. Sein näherer Aufenthaltsort soll aus Sicherheitsgründen geheim bleiben. Er gehört zu jenen Tschetschenen, die in den letzten Tagen einen Einberufungsbefehl erhalten haben – und nicht für Putin oder Kadyrow in den Krieg ziehen wollen. Nicht alle von Hamzats Freunden konnten sich verstecken oder fliehen, einige von ihnen sind mittlerweile schon verstorben. Er hält mit seinem guten Freund Ilhan, der in Wien lebt, per Whatsapp Kontakt. „Ich fühle mich wie auf einem Minenfeld, und irgendwann trete ich auf eine Mine“ schreibt er ihm. Über die komplexe Sachlage und die Situation im Detail könnt ihr in Anja Melzers Artikel bei ZackZack.at nachlesen.  

„Wir werden bis nach Berlin vordringen“

Der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow, Putins „Mann fürs Grobe“, wie er oft genannt wird,  hat erst vor kurzem die Entsendung von 9.000 tschetschenischen Soldaten versprochen – jetzt hat er sein Versprechen scheinbar geltend gemacht. Unter Androhung von Zwang und Sanktionen werden junge Männer für den Krieg in der Ukraine regelrecht eingesammelt, heißt es aus Tschetschenien. Der Parlamentspräsident Magomed Daudov, wiederum Kadyrows Rechte Hand, verkündete kürzlich auf Telegram, dass auch in Europa lebende Tschetschenen nicht sicher seien. „Wir werden bis nach Berlin vordringen. Nehmt euch in Acht. Vor dem, was ihr sagt, und dem, was ihr tut.“ Was bedeutet das für in Wien lebende Tschetschenen wie Ilhan? Die Lage ist unübersichtlich und komplex. Es ist schwierig, an offizielle Informationen zu gelangen.„Ich werde jetzt keinen Brief mit der Einberufung nach Wien bekommen, die werden dafür sorgen, dass meine Verwandten in Tschetschenien das mitbekommen und mir die Nachricht weiterleiten -  aber wenn ich auf russischem Territorium erwischt werde, komm ich ins Gefängnis.“ so Ilhan.

Erste Teilmobilmachung seit dem Zweiten Weltkrieg

Vergangenen Mittwoch hat Wladimir Putin die erste Teilmobilmachung im Land seit dem Zweiten Weltkrieg angeordnet. Stand jetzt wird die Mobilisierung als Teilmobilisierung bezeichnet: Es sollen vorerst 300.000 Reservisten eingezogen werden. Während diese offiziellen Informationen die Runde machen, werden in der Teilrepublik Tschetschenien im Stillen immer mehr Tschetschenen zwangseinberufen, um an der Front gegen die Ukraine zu kämpfen.Die russische Regierung hat am Mittwoch ein Gesetz erlassen, laut dem kein Mann zwischen 18 und 65 Jahren aus der Russischen Föderation ausreisen darf. Davon sind nicht nur Bewohner Russlands selbst, sondern von Teilrepubliken wie Tschetschenien oder Dagestan betroffen. Die Preise der Flugtickets aus Russland raus sind in den letzten Tagen enorm gestiegen.Die Beziehungen zwischen Tschetschenien und Russland sind aber seit Jahrhunderten von Unterwerfung und Widerstand geprägt. So wurden 1944 rund 500.000 Tschetschen:innen und Ingusch:innen durch den damaligen Ministerpräsidenten der Sowjetunion, Josef Stalin, aus ihrer Heimat nach Zentralasien deportiert. Anfang der 1990er Jahre, nach dem Zerfall der Sowjetunion, erklärte Tschetschenien die Unabhängigkeit gegenüber Russland. Darauf folgten die beiden Tschetschenienkriege – der erste von 1994 bis 1996, der zweite von 1999 bis 2009. Die Tschetschenen waren das erste Volk, das Putins Brutalität gespürt hat. Auch Ramzan Kadyrow und davor sein Vater Achmad Kadyrow standen einst gegen Putin – bis dieser sie mit finanziellen Mitteln und Versprechungen auf seine Seite brachte. Nun ist Kadyrow also seit Jahren loyal gegenüber Putin. Die Sachlage ist so chaotisch wie komplex. 

Kadyrows Version der tschetschenischen Mobilmachung ist übrigens, dass „Freiwillige aus Tschetschenien zum Wohle der Menschen in den Kampf gegen Satanisten ziehen. Und ich freue mich sehr, dass das Kontingent derer, die in die Reihen der Einheiten eintreten wollen, jeden Tag wächst.“

 

Am Sonntag findet am Platz der Menschenrechte in Wien eine Demo zu dem Thema statt, mehr infos auf Instagram bei @diewuetenden

(c) calimaat
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