Mütter, die nicht lieben

07. Januar 2016

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Mütter Therapie
Foto: Dmitrij Wolkow

Es gibt wohl keine bedingungslosere Liebe als die einer Mutter. Sie ist die erste Bezugsperson in unserem Leben und für die meisten ist und bleibt sie der wichtigste Mensch. Doch nach einem Vorfall im Zug frage ich mich Folgendes: Kann jede Mutter lieben?

Ich lehne mich in dem engen Stuhl des Railjets zurück, als ich plötzlich höre „Nix kannst du! Magst du nicht mal anfangen zu lesen, in deinem Alter sollte man das schon besser können! Und beim rechnen liegst du auch die ganze Zeit daneben, kannst du vielleicht auch mal was richtig machen? So ein Taugenichts!“

Als ich diese Worte höre, blicke ich drei Sitze zurück und bemerke zwei regungslose Augen einer Frau, fixiert auf dem versteinerten Gesicht ihres kleinen Sohnes. Die Worte strömen unüberlegt aus ihrem Mund heraus und ich drehe mich wieder zurück, um dem Geschrei zu entkommen. Wie kann eine Mutter ihren Sohn so behandeln? Die restlichen 3 ½ Stunden werde ich von einer Frage verfolgt: Gibt es Mütter, die nicht lieben können?

„Jede Mutter liebt ihre Tochter!“

Interessiert widme ich mich diversen psychologischen Foren, in denen vorwiegend verzweifelte Töchter die virtuelle Welt um Hilfe ersuchen. Die Überzeugung der Menschen, dass jede Mutter instinktiv eine gute Mutter ist, fällt mir sofort ins Auge.

Eine der Frauen möchte wissen, ob denn jemand eine Art Paartherapie für Mutter und Tochter kenne. Sie leide stark unter der verbalen Aggressivität ihrer Mutter und bräuchte dringend Hilfe. Der Großteil der Kommentatoren war vor Entsetzen fast versteinert geworden und legitimierte das negative Verhalten der Mutter mit stereotypischen Ratschlägen wie „ein langes Gespräch könnt’ da auch schon reichen, sie ist ja deine Mutter“ oder „jede Mutter liebt ihre Tochter. Vielleicht hat sie im Moment viel Stress, zeig’ doch mal Verständnis“.

„Der Mutterinstinkt lässt sich nicht einfach einschalten“

Wenn ich an die heutige Welt denke, behaupte ich gern, dass wir Menschen ein großes Potential besitzen, über unser Leben und Dasein zu reflektieren. Nichtsdestotrotz scheint die gesellschaftliche Verherrlichung der Mutterrolle immer noch in unseren Köpfen verankert zu sein. Mutter weiß immer mehr. Wer mütterliche Liebe zu hinterfragen wagt, ist unweigerlich egoistisch und undankbar. In diesem Fall kann man nur verlieren, auch wenn viele Therapeuten vom Gegenteil sprechen. „Der „Mutterinstinkt“ lässt sich nicht einfach einschalten“, schreibt Psychotherapeutin und Autorin Susan Forward in ihrem Bestseller „Wenn Mütter nicht lieben“.

Meine Freundin Caroline* hat seit längerer Zeit ein angespanntes Verhältnis zu ihrer Mutter. „Kaum jemand konnte sich mit mir identifizieren, wenn ich schlecht von meiner Mutter sprach“, erzählt sie mir von ihren Erfahrungen. „Menschen können es nicht nachvollziehen, vor allem nicht, wenn sie eine gute Beziehung zu ihrer Mutter haben.“  Mit Hilfe eines Therapeuten konnte sie ihr Selbstwertgefühl steigern und ist jetzt generell viel glücklicher. Damit die Therapie erfolgreich verläuft, bedarf es einer vertrauenswürdigen Beziehung zum Therapeuten. „Er/sie sollte sich generell als Bindungsperson anbieten. Die Methode spielt dabei  eine untergeordnete Rolle“, erklärt mir der Wiener Psychotherapeut Christian Beer. Auch Caroline ist überzeugt, dass die therapeutische Behandlung ihr geholfen hat, zu sich selbst zu finden. „Die Erfahrung hilft mir bestimmt, irgendwann eine gute Mutter zu werden“.

Was ist eine „gute“ Mutter?

Doch wer ist sie, diese gute Mutter? Was macht sie aus? Niemand ist perfekt und jeder von uns hat selbst mit eigenen Dämonen zu kämpfen, was uns nur menschlich macht. Doch solange die Grundeinstellung der Mutter das Selbstvertrauen des Kindes stärkt und ihm ein Gefühl vermittelt, geliebt zu werden, wage ich zu behaupten, dass sie einen guten Job macht (man beachte dabei die Relativität des Begriffs „gut“). Eine gute Mutter ist nicht angeboren. Zu dieser muss man werden, denn es gibt keinen magischen Knopf, auf den man drücken kann und plötzlich sind sie da, die Muttergefühle.

Die Auseinandersetzung mit dem Thema bringt mich zum Nachdenken. Habe ich mich jemals ungeliebt gefühlt? Gab es Momente, an denen ich Zuneigung gebraucht hätte und sie nicht bekommen habe? Wünschte ich, Dinge wären anders gewesen? Ja. Doch egal wie tief die Wunden und wie wichtig die Beziehung zu unseren Liebsten auch sein mag, es gibt eine, die nichts übertreffen kann und das ist die Beziehung zu sich selbst. Diese kann uns keiner nehmen.

 

 

 

 

 

 

*Name von der Redaktion geändert.

Psychotherapeut Christian Beer: www.christianbeer.at

Susan Forward: „Mütter, die nicht lieben“

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