"Ich will mit Männern nichts zu tun haben."

01. Dezember 2017

Küssende Pärchen in der U-Bahn finden sie peinlich, bei Sex-Szenen auf Youtube schauen sie weg. Und wenn sie doch mit einem Burschen schlafen, bricht eine Welt zusammen: Junge Afghaninnen über den Umgang mit ihrer Sexualität und die Angst vor Männern aus der eigenen Community. 

Foto: Zoe Opratko
Foto: Alexandra Stanic

Fotos und Text: Alexandra Stanic

 

„Ich will nichts mit Männern zu tun haben“, antwortet Sahar* entschieden auf die Frage, wieso sie ausschließlich mit Frauen befreundet ist. Sie wirkt aufgeweckt und selbstbewusst, als sie die Redaktion betritt, strahlt sie. Die 18-Jährige hat einen festen Händedruck, trägt einen glitzernden schwarzen Pullover, enge Jeans und Stiefel mit kleinem Absatz. Vor zwei Jahren ist die Afghanin mit ihrem elf Jahre älteren Bruder und seiner Frau nach Österreich geflohen. Nach kurzem Zusammenleben zieht sie in eine WG für Frauen mit Fluchthintergrund, bereitgestellt von der Diakonie. Seither bestreitet sie ihr Leben selbständig. Sahar macht ihren Pflichtschulabschluss nach, geht zur Deutschnachhilfe, nimmt einmal die Woche Gitarrenunterricht, besucht einen Fotokurs - sie möchte gerne Fotografin werden – nimmt an integrationsfördernden Veranstaltungen wie Info-Abenden oder Ausstellungen teil und spielt Fußball in einer Frauenmannschaft.

 

Ihr Leben konnte sie nicht immer so selbstbestimmt führen. Sahar wächst in einem streng konservativen, frauenverachtenden Umfeld auf. Männliche Autoritätspersonen werden nicht in Frage gestellt, Frauen haben zu gehorchen. „Ich durfte nicht allein vor die Tür gehen und auf gar keinen Fall mit Männern sprechen“, erinnert sich Sahar. Sexualität ist in Afghanistan ein absolutes Tabuthema, wie Babys auf die Welt kommen, wird nicht besprochen - nicht in der Schule, nicht zu Hause. „Höchstens vor der Hochzeitsnacht sprechen ältere Frauen mit der Braut und erklären ihr, was auf sie zukommt“, so Sahar. „Als ich klein war, habe ich so ein paar Infos aufgeschnappt, Bescheid wusste ich aber trotzdem nicht.“ Als Sahar mit 12 ihre Tage bekommt, erzählt sie niemandem davon. Zu groß ist die Scham. „In Afghanistan ist die Menstruation eine schlimme Sache, über die man nicht spricht.“ Mit Sex verbindet sie ausschließlich Negatives. Mit neun Jahren wird sie Opfer eines sexuellen Übergriffs. Mit „Ich möchte nicht darüber reden“ und einem zu Boden gerichteten Blick beendet sie die Erzählung über diesen Teil ihrer Vergangenheit.

Foto: Alexandra Stanic
Foto: Alexandra Stanic

 

Das Leben in der Seifenblase

 

Sahar hat keinen positiven Asylbescheid. „Mein Leben ist wie eine Seifenblase“, so die 18-Jährige. „Morgen könnte sie platzen und alles wäre vorbei.“ Trotz der ständigen Angst, abgeschoben zu werden, versucht sie sich bestmöglich zu integrieren. „Als Kind war es mein größter Wunsch, normal in die Schule gehen zu dürfen“, erzählt Sahar, die insgesamt nur fünf Jahre zur Schule gehen konnte. „Hier in Österreich kann ich das endlich nachholen.“ Das Kopftuch hat sie nach einem Jahr abgelegt. „Ich wollte nicht, dass mir Österreicher wegen eines Stück Stoffs anders begegnen“, erklärt sie. „Meine Herkunft muss mir nicht auf der Stirn geschrieben stehen.“ Früher dachte die 18-Jährige, dass Frauen ohne Hijab in die Hölle kommen. „So wurde es mir beigebracht. Heute höre ich auf mein Herz.“

 

Sahar knüpft mit ihrer offenen Art schnell Freundschaften, meist mit anderen Flüchtlingen aus Ländern wie Nigeria, Syrien, Somalia oder auch Afghanistan. Burschen sind keine dabei. „Afghanische Männer denken nicht gut über Frauen“, so Sahar. Mädchen wie Sahar wird oft zu wenig Aufmerksamkeit von der Öffentlichkeit geschenkt – weil sie nicht auffallen, kaum Probleme bereiten und für keine Schlagzeilen sorgen. Doch gerade sie bräuchten Unterstützung. Denn die eigene Community ist oft keine Stütze, eher eine Bedrohung. Das weiß auch Sexual- und Psychotherapeutin Elia Bregagna. Sie unterstützt Flüchtlinge bei der Integration und nimmt unter anderem die junge Afghanin Nesrin* bei sich zu Hause auf. „Ich musste ihr versprechen, dass ich sie nie, unter keinen Umständen, in Kontakt mit afghanischen Männern bringe“, so die Therapeutin. Das Leben mit einer österreichischen Familie hilft Nesrin sich zu öffnen. Anfangs noch scheu und ängstlich, entwickelt sich die 19-Jährige schnell weiter. Sie nimmt sich ein Vorbild an der vier Jahre älteren Tochter der Sexualtherapeutin. „Wir selbst gehen zu Hause offen mit tabuisierten Themen wie Sex oder Menstruation um und das hat Nesrin geholfen“, so Bregagna. „Nach einer Zeit hat sie verstanden, dass Sex etwas Natürliches ist und die Regel etwas, wofür man sich nicht schämen muss.“ 

 

Trotzdem bricht Nesrin vor der Sexualtherapeutin in Tränen aus, als sie ihr „gesteht“, dass sie zum ersten Mal Sex mit einem jungen Afghanen in Wien hatte. „Sie war vor allem deswegen verzweifelt, weil sie nicht den ‚Mut‘ hatte, sich das Leben zu nehmen“, so Bregagna. „Ihrer Ansicht nach war ihr Leben nichts mehr wert, jetzt, wo sie keine Jungfrau mehr war.“ Es braucht viele Gespräche, um Nesrin klarzumachen, dass sie sich weder schämen noch umbringen muss, nur weil sie mit einem Jungen geschlafen hatte. „Zunächst sind neue Erkenntnisse wie diese schwer zu fassen, dann aber erlösen sie die Mädchen von dem Druck und der Angst“, beschreibt Bregagna den Entwicklungsprozess.

 

Der Wunsch nach einem normalen Leben

 

Auch Ayise* kommt aus einer strengen Familie. Aufgewachsen in einer kleinen Stadt in Afghanistan, flieht sie gemeinsam mit ihren Eltern und Geschwistern vor etwa zwei Jahren nach Österreich. Hier geht sie das erste Mal richtig zur Schule, hier lernt sie lesen und schreiben.

 

Anders als Sahar trägt Ayise ein Kopftuch und weite, lockere Kleider. Alle paar Minuten zupft sie ihr Kopftuch zurecht, die Schülerin spricht leise und unsicher. Nach kurzer Zeit entwickelt sich das Gespräch in eine andere Richtung. Man merkt Ayise an, dass sie froh ist, sich mit jemandem über Tabuthemen unterhalten zu können. So erzählt sie, dass sie sich nicht mit Jungs aus der Klasse anfreunden möchte. Körperkontakt ist strengstens untersagt, auch wenn es um harmlose Berührungen am Arm geht. Auf die Frage, ob sie schon einmal verliebt war, schüttelt sie zunächst peinlich berührt den Kopf, später erzählt sie von einem jungen Syrer, den sie in einem Jugendzentrum kennengelernt hat. „Sie sagen das aber nicht weiter, oder?“, fragt sie erschrocken. Erst das Versprechen, dass das Gespräch anonymisiert wird, beruhigt sie. „Meine Eltern wissen nicht, dass ich im Verein auch mit Jungs Computer oder Tischfußball spiele.“ Ayise vermeidet Augenkontakt, während sie über ihr Geheimnis spricht und rutscht auf ihrem Sessel hin und her. Einer Erwachsenen kann sie sich aber auch mit diesem Anliegen anvertrauen: einer der Betreuerinnen im Jugendtreff. „Ihr habe ich gesagt, dass ich mich in den Syrer verliebt habe und als ich traurig deswegen war, hat sie mich getröstet.“

 

Noch verläuft das Gespräch entspannt, Aiyse* erzählt immer weiter. Bis es plötzlich um ihre Zukunftsträume geht. „Abends liege ich im Bett und wünsche mir, ein ganz normales Mädchen zu sein“, gesteht die 14-Jährige. Sie wirkt jetzt nicht mehr ausgelassen, sondern nachdenklich, fast traurig. „Ich möchte auch so leben wie Mädchen hier, gut in der Schule sein und österreichische Freundinnen haben.“ Manchmal, so Ayise, frage sie sich, warum sie das Kopftuch eigentlich trägt und was sie von anderen Mädchen unterscheidet. Verliebt sein und vor der Ehe sexuelle Erfahrung sammeln, kommt nicht in Frage – sie würde Gegenteiliges niemals vor anderen zugeben. Sie geht davon aus, dass ihre Eltern einen Ehemann für sie organisieren. „Ich kenne ja keine Jungs, da kann ich auch nicht selbst suchen“, erklärt die Schülerin. „Mama und Papa werden mir sicher einen guten Mann finden.“

 

Kein Sex, keine Liebe

 

Von einer arrangierten Ehe ist auch Meska* überzeugt, auch wenn sie es nicht so nennt. Ihr sei es lieber, wenn ihre Eltern einen Mann für sie finden. „Weißt du, wenn du in Afghanistan mit einem Jungen redest, musst du ihn heiraten“, erzählt die 15-Jährige lachend. „Hier in Österreich ist das ja egal.“ Männliche Freunde möchte sie keine, noch nicht einmal Kontakt zu Klassenkameraden strebt sie an. „Burschen sind gemein und rufen Mädchen komische Sachen nach“, so Meska. „Einmal haben Männer bei einer Straßenbahnstation einer Frau hinterhergepfiffen und als sie ihnen gesagt hat, sie sollen still sein, haben sie sie beschimpft.“ Deswegen sei sie froh, auch in Österreich ein Kopftuch zu tragen. Eine Frage zu ihrer Periode versteht sie zunächst nicht. Menstruation, Tage, Periode, monatliche Blutung - Begriffe, die Meska nicht nutzt. „Ich habe keine Ahnung, warum ich die Tage habe“, gesteht sie. Die 15-Jährige kauft, als sie ihre Menstruation das erste Mal bekommt, heimlich Binden. Mit ihrer Mutter hat sie nie darüber gesprochen. Auch nicht, als sie ihren ersten BH gekauft hat. „Über sowas redet man bei uns nicht“, war ihre Erklärung.

Foto: Alexandra Stanic
Foto: Alexandra Stanic

Sex ist ein Thema, dem Meska ausweicht. „Wenn ich mir ein YouTube-Video ansehe, in dem eine Sexszene vorkommt, spule ich entweder ganz schnell weiter oder schaue weg“, erklärt die junge Afghanin. „Pärchen, die sich in der U-Bahn küssen, finde ich auch komisch und peinlich.“ Im Biologie-Unterricht wurde Sex zwar thematisiert, Meska hat aber aufgrund sprachlicher Barrieren kaum etwas verstanden. „Und es war mir ehrlich gesagt auch sehr unangenehm mit Jungs in der Klasse zu sitzen, während der Lehrer darüber spricht.“ Alte Denkmuster aufbrechen, den eigenen Körper bewusst wahrnehmen und sich fallen lassen: Das ist für geflohene Mädchen oft schwierig. Welche Wertigkeit eine Frau in unserer Gesellschaft hat, müssen sie erst lernen. Die 18-jährige Sahar ist auf dem Weg, diese Wertigkeit zu verstehen. In kleinen Schritten arbeitet sie an ihrer Selbstwahrnehmung. Weg von dem Mädchen, das keine Rechte hat und hin zu einer Frau, die ihr Leben selbstbestimmt führt. Während des Interviews fällt es ihr zunehmend leichter, tabuisierte Themen anzusprechen. Sie beschreibt, dass sie erst lernen musste, wie man den Druck aus der eigenen Community überwindet. Dass sie nun versteht, dass sie sich nicht für ihre Menstruation schämen muss. Dass sie die gleichen Rechte wie Männer hat und so leben kann, wie sie möchte. Gegen Ende des Gesprächs verrät Sahar, dass sie in Österreich doch einmal Kontakt zu einem jungen Mann hatte. „Wir haben uns kurz geküsst“, sagt sie schüchtern und sieht weg. Für mehr war sie aber noch nicht bereit.

KULTURSCHOCK

„Ich kann die Erzählungen und Empfindungen der Mädchen gut verstehen. Ich bin vor 18 Monaten nach Österreich gekommen und habe auch einen kulturellen Schock erlebt. Als Männer sich mit mir unterhalten haben, musste ich erst lernen, dass nichts Schlimmes passieren wird und sie nur höflich sind. In Afghanistan wäre es undenkbar gewesen, dass ich Männern die Hand schüttle, ihnen direkt in die Augen sehe oder öffentlich mit ihnen spreche. Ich wäre sofort als Schlampe beschimpft worden. Kurzer Augenkontakt hätte gereicht und Männer hätten das sofort als Einladung verstanden. Auch ich war das erste Mal, als ich ein küssendes Pärchen in der U-Bahn in Wien gesehen habe, überrascht. Ich selbst bin in den Öffis in Kabul oft sexuell belästigt worden, sicher habe ich mich als Frau nie gefühlt. Besser wurde die Situation auch nicht, als ich mein Studium begonnen habe. Gynäkologie ist kein angesehenes Fach, deswegen habe ich nach vier Semestern abgebrochen. In Afghanistan werden Frauenärztinnen nicht als wichtig empfunden. All das und noch viel mehr ist in Österreich ganz anders. Das zu verstehen, braucht Zeit. Ich tue mir mit diesen Veränderungen mit Anfang 20 manchmal auch noch schwer. Ich kann mir also gut vorstellen, dass das für Teenager noch schwieriger ist.“

Leila* (21) ist vor 18 Monaten nach Österreich geflohen und möchte an dieser Stelle lieber anonym bleiben. 

 

„Ein Haufen Sünde, Schmutz und Verführung"
 
Interview mit Ärztin und Sexualpädagogin Dr. Elia Bragagna
 
Wie wichtig ist sexuelle Aufklärungsarbeit bei geflohenen Mädchen?
Sehr wichtig. Sexualpadägogen müssen in allen Altersgruppen regelmäßig eingesetzt werden. Die Mädchen sollen verstehen, was mit und ihrem Körper passiert, zum Beispiel bei sexuellen Begegnungen und während ihrer Menstruation passiert,  Sie sollen Freude mit ihrem Körper spüren und wissen, was sich gut und was sich nicht gut anfühlt.
 
Welche Schwierigkeiten können sich ergeben?
Diese Mädchen sind oft in einem konservativen Umfeld aufgewachsen, das ihnen suggeriert hat, dass Frauen nichts als ein Haufen Sünde, Schmutz und Verführung sind. Wer so großgeworden ist, braucht viel Zeit und Unterstützung, um sich selbst annehmen und öffnen zu können. Es darf kein Druck ausgeübt werden, jede Veränderung ist anfangs irritierend. Positive Vorbildwirkung von uns ist wichtiger und wirkt stärker. 
 
Welche schulischen Maßnahmen sollten ergriffen werden?
Ich bin für Ganztagsschulen für alle. Es braucht viel Kontakt zu Österreicherinnen. Das passiert nur, wenn sie den ganzen Tag zusammen sind. Sie müssen beim Turnunterricht ihren Körper spüren, im Aufklärungsunterricht lernen, wie natürlich Sexualität ist und erfahren welche Wertigkeit eine Frau in unserer Gesellschaft hat.
 

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