Wie alles begann

14. Dezember 2023

Kein Geld, keine Redaktion, aber eine scharfe Idee. Von Fake-Gucci bis hin zur Balkan-Meile: Gründer Simon Kravagna über den Launch der ersten biber-Ausgabe 2006.

 

Von Simon Kravagna

Ein Stück Mediengeschichte: so sah der erste biber-Prototyp 2006 aus.
Ein Stück Mediengeschichte: so sah der erste biber-Prototyp 2006 aus.

Völlig enthusiastisch ließen wir von der ersten Ausgabe „Balkan, aber richtig!“ gleich 20.000 Stück drucken und (ohne zu fragen) bei U-Bahnstationen verteilen. In der „Community“ war die Resonanz enorm und unsere abendlichen Redaktionssitzungen wurden immer größer. Die hielten wir im damaligen Jugendverein Echo von Co-Gründer Bülent Öztoplu ab. Damals schon dabei: Amar Rajković, bis 2022 stellvertretender Chefredakteur und Eser Akbaba, später erste Marketingleiterin von biber. Nach jeder neuen Ausgabe verpackten wir gemeinsam die Magazine in Kuverts und sendeten Hunderte davon an Entscheidungsträger und Institutionen. Dabei ließen wir Pizza kommen und besprachen die nächsten Storys.

Nach den ersten Ausgaben professionalisierten wir unsere Strukturen, indem wir etwa Vertriebskooperationen mit McDonalds, Anker, Spar, Billa und anderen eingingen. Die Redaktion zog von einem kleinen Gassenlokal ins angesagte Museumsquartier. Aber vor allem führten wir die biber-Akademie ein. Das Ziel: Mit Hilfe von Förderern und Sponsoren journalistische Talente auszubilden. Wie ein Fußballclub scouteten wir systematisch Talente, bildeten sie aus und kamen unserem Ziel näher, die heimische Medienlandschaft zu bereichern: mit guten Journalist:innen, die die anderen Welten in Wien kennen, weil sie aus Arbeiter:innenfamilien stammen, Ramadan feiern oder aus Damaskus nach Wien geflüchtet sind und sich hier ein neues Leben aufbauen.

Ich war damals 35, Innenpolitik-Redakteur beim Kurier und ehrlicherweise etwas gelangweilt von den typischen Storys rund um Jörg Haider und Co. Da erreichte mich unter dem Betreff „Bewerbung für die Neue Wiener Multi-Kulti-Zeitung“ folgendes Mail: „Sehr geehrtes Team dieser neuen wunderbaren Zeitung. Ich war gerade auf der Uni und sah, dass Journalisten für eine Stadtzeitung gesucht werden. Ich bin gebürtige bosnische Kroatin und kenne mich in der Balkanszene bestens aus.“ Die Bewerberin schrieb weiter: „Life-Style und Mode in unserer Stadt sind mir bekannt. Von aufgeklebten Fälschungen, etwa das „G“ zu „ucci, bis hin zu Pumaschuhen vom Südbahnhof-Flohmarkt kann ich Bände schreiben. Musik, Konzerte, Events fangen in der Ottakringerstraße an, gehen über die türkischen Diskos bis hin zum Nachtwerk im 23. Bezirk, wo wir immer wieder Balkansternchen bewundern können. Wien, Vienna, Beć oder Viyana – viele Namen, eine Stadt!!!“

Es war keine klassische Bewerbung für einen Job im Journalismus, aber es war die richtige Bewerbung für mein Projekt. Ein paar Tage zuvor hatte ich Zettel an den Schwarzen Brettern in den Unis aufgehängt. Das war damals so üblich, Instagram noch nicht erfunden und selbst Facebook gerade erst am Start. Ich wollte ein neues Medium gründen und suchte nach dem, was mir in den etablierten Redaktionen fehlte: junge Journalist:innen mit Migrationsbackground, die Medien mehr Kompetenz geben würden. Durch ihre Sprachkenntnisse, ihre Netzwerke und Geschichten aus ihrer Lebenswelt.

Ich suchte damals, das wusste ich nach diesem Mail, Menschen wie Ivana Martinović. Die Studentin und spätere Online-Chefin von biber schrieb mir aus Ottakring und kannte jeden Balkan-Club dort. Und es gab nicht nur eine Ivana, die sich meldete. Auch Ivana Cucujkić, später meine erste stellvertretende Chefredakteurin von biber, schickte eine Bewerbung. Im Sommer 2006 gab es dann ein Team von rund zehn jungen Talenten, verstärkt um ein paar journalistische Profis und Fotografen, die das Projekt unterstützten. Jetzt gab es nur ein Problem. Diese neue Stadtzeitung gab es zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht. Es gab nicht einmal den Namen „biber. Es gab in Wahrheit gar nichts: keine Redaktion, kein Geld, kein Produkt. Es gab nur eine Idee. Die Idee für ein Medium, das von Journalist:innen gestaltet wird, die Wiens viele Sprachen sprechen – und verstehen.

Wie konnte im September 2006 dann überhaupt die erste biber-Ausgabe produziert werden? Durch unbezahlte Arbeit und Selbstausbeutung, wie es heute heißen würde. Konkret: Wir druckten erst, als wir genug Inserate hatten, um die Mediaprint zu bezahlen. Sonst bekam niemand Geld. Das verdienten wir damals alle in anderen Jobs.

Vor dem Druck brauchte unser Magazin noch einen Namen. So richtig wollte zuerst keiner passen. Der Balkanfraktion gefielen die türkischen Vorschläge nicht. Die Wiener:innen mit türkisch-kurdischen Wurzeln wiederum konnten nichts mit den balkanischen Begriffen anfangen. Und einen österreichischen Namen wollte sowieso niemand. Es brauchte viele Runden, meist abends in Lokalen, um den Durchbruch zu schaffen. „biber“ – das gefiel allen. Der jungen türkisch-kurdischen Gruppe, weil es für Paprika/Pfefferoni steht, den Ex-YU-Leuten, weil es Pfeffer bedeutete und den „echten“ Österreicher:innen weil biber doch ein nettes Tierchen ist. Wir haben dann noch den Begriff „Multi-Kulti“ eliminiert und fertig war „biber. Stadtmagazin für Wien, Viyana und Beć“.

 

Aus dem Archiv: Mittels Aushang in Lokalen und auf Unis wurde 2006 die erste biber-Generation gefunden
Aus dem Archiv: Mittels Aushang in Lokalen und auf Unis wurde 2006 die erste biber-Generation gefunden

War immer alles super? Natürlich nicht. Vor allem in den Anfangsjahren spalteten nationale Konflikte zwischen Kurd:innen und Türk:innen sowie Serb:innen und Bosnier:innen immer wieder das Team. Es brauchte Zeit, bis die Redaktion wichtiger als die Herkunftsländer wurde. Später wurde dann das Kopftuch heftig debattiert und die zunehmende Religiosität junger Muslim:innen wurde zum großen Thema. Früher als andere spürten wir auch die Radikalisierung einer kleinen Szene. Die Story „Sure der Leidenschaft – Sex im Islam“ brachte uns Drohungen von Salafisten ein. Auf Anraten des Verfassungsschutzes bauten wir eine Sicherheitstür ein. Gegen rechtsradikale polnische Trolle im Internet, die die jetzige Chefredakteurin Aleksandra Tulej im Netz verfolgten, hat die Stahltür leider nicht geholfen. Migrantische Vereine sahen in biber zudem oft eine Konkurrenz. Wir würden ihnen „ihre“ Jugendlichen wegnehmen, hieß es.

In all den Jahren war „Integration“ ein Fremdwort für uns. Bei uns wurde niemand integriert: Wir haben das Beste aus vielen Welten angenommen und zu möglichst gutem Journalismus gemacht. Was zählte, waren vor allem Ideen für gute Geschichten und Leistung. Wir zogen damit Jungjournalist:innen an, die biber immer wieder Relevanz gaben wie Aleksandra Tulej, Delna Antia-Tatić, Nada Chekh, Melisa Erkurt, Alexandra Stanić, Marina Delcheva und viele mehr.

 

„Ethno“-Werbung in der ersten Ausgabe: Das Sujet für den Telekom-Anbieter „One“ gestalte die Agentur Jung von Matt
„Ethno“-Werbung in der ersten Ausgabe: Das Sujet für den Telekom-Anbieter „One“ gestalte die Agentur Jung von Matt

In all den 16 Jahren hatten wir finanziell immer wieder zu kämpfen. Gleichzeitig gab es auch viel Unterstützung: von Menschen, Firmen und Institutionen. Dafür möchte ich mich bedanken! Vor allem bei Andreas Wiesmüller, der mit seinem Investment die Gründung der biber-GmbH im Jahr 2007 ermöglichte, sowie bei Miteigentümer Rudi Kobza. Sehr beindruckt haben mich in all den Jahren biber-Geschäftsführer Wilfried Wiesinger, der mit Nerven aus Stahl den vielen Krisen trotzte, Art Director Dieter Auracher, der nächtens mit viel Liebe das Magazin finalisierte sowie Verlagsleiterin Aida Durić, die für biber mehr als nur eine zentrale Rolle einnahm.

Ist jetzt alles vorbei? Nein, denn biber hat mehr als 150 junge Menschen geprägt, die auf ihrem Weg durch die Institutionen sind oder selbst Neues – in Print, auf Instagram oder TikTok – aufbauen. Absolvent:innen unserer Akademie arbeiten in etablierten Medien. Und noch mehr davon wirken in Firmen oder Institutionen wie Siemens, REWE, Ärzte ohne Grenzen, Teach for Austria, dem Parlament oder im Kanzleramt. Das Schöne an einer Idee ist, dass sie von Menschen weitergetragen werden kann. Unabhängig von einer fixen Organisationsform. Wir sind ein Netzwerk und viele von uns werden Wien weiter prägen und neue Initiativen starten. Diese Stadt hat noch so viel Potenzial. Wir müssen es nur heben!

 

 

 

Foto: Zoe Opratko
Foto: Zoe Opratko

biber-Gründer Simon Kravagna führte biber als Chefredakteur und Herausgeber mehr als 10 Jahre. 2019 wechselte der frühere Innenpolitik-Journalist als Geschäftsführer zum forum journalismus und medien (fjum).

 

 

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