Soll ich meine Schuhe ausziehen?

16. Mai 2014

Eine Frage, die nicht nur durch alle türkischen Medien geistert, Nein, auch mir liegt sie schwer im Magen. Die Grubenkatastrophe im westtürkischen Soma ist die schwerste dieser Art in der Geschichte des Landes. Das Unglück hat eine breite Welle der Empörung, Wut und wie könnte es auch anders sein viel politische Polemik ausgelöst.

Das Land trauert  nicht nur im Stillen um die 284 Toten  (Zahl der Opfer ist noch immer nicht ganz bekannt),  sondern auch lauthals auf den Straßen in beinahe allen größeren Städten. Die Ausschreitungen mit der Polizei erinnern an Gezi-Tage! Man twittert, blogt, ein schwarzes Facebook-Profilfoto zeigt plakativ die Solidarität mit der arbeitenden Schicht. Auf allen Online-Plattformen wird spekuliert, diskutiert und geflucht. Man ist empört. Man ist wütend. Man will die Verantwortliche in Rechenschaft ziehen.  Man kritisiert, dass auch nach 48h keine genauen Opferzahlen genannt werden können. Bergungsarbeiten laufen noch auf Hochtouren, jedoch sinkt mit jeder Minute die Wahrscheinlichkeit Menschen wohlauf aufzufinden.

Fraglich war auch die Rhetorik der politischen „Macher“. Erdoğan selbst hat die Grubenkatastrophen mit einem Querverweis auf große Katastrophen der Vergangenheit, als ein nun mal vorhandenes natürliches Risiko in diesem Job kommentiert. Auch das jüngste YouTube-Video mit ihm sorgt für viel Aufsehen. Das Video zeigt eine Menschenmasse in Soma, die den Premierminister ausbuht. Erdogan – der sich in den letzten Monaten aufgrund der Wahlkampagnen immer mit zujubelnden Menschenmassen umgeben hatte  – wirkt angespannt. Die direkte Konfrontation mit den Wutbürgern scheint ihn zu überfordern. Auf dem Video sieht man im weiteren Verlauf auch, dass der Bürger immer mehr in Richtung eines Supermarktes gedrängt wird und in einem Wirrwarr von Leibwächtern und Menschenmassen kann man bei genauem Hinsehen erahnen, dass auch Erdogan seine Hand erhebt. Ob er tatsächlich zuschlägt, lässt Raum für  Spekulationen.  Der betroffene Bürger hat sich nun zu Wort gemeldet und meint: „Premier hat keine Schuld. Es war eine Handlung im Affekt!“.  Der „geschlagene“ entschuldigt sich und nimmt es dem Premier natürlich nicht übel und fügt noch hinzu, dass er „auf keinen Fall zu den Provokateuren gehöre! Er war nur in der Menschenmasse untergegangen!“ Erdoğan ist im Recht. Was erwartet man sich auch von einer Gesellschaft, die mit dem Sprichwort „An der Stelle, wo deine Mutter zuschlägt, entspringt eine Rose“ aufwächst. Die Regierung darf dann auch mal ruhig zulangen, solange es für das Wohl der Allgemeinheit ist! Heißt ja nicht umsonst „Mutterland“ ;) Diese bedingungslose Akzeptanz ist wohl das Gefährliche! Ist denn nicht auch diese Akzeptanz gerade die Brutstätte aller „Kader“-Argumentationen.  

Ganz fernab aller aggressiven Ausfälle, dem Geschrei und den politischen Diskussionen steht ein in der Nacht geborgener Arbeiter.  Geborgen von den Tiefen des Mienenwerkes wird er von den Sanitätern in einen Krankenwagen begleitet.  Die Frage, die er dabei stellt,  ist für ihn vermutlich nicht wirklich sonderbar, für mich jedoch erschütternd. Sie hat mich tatsächlich aus der Distanz getroffen und sitzt mir wie ein Klotz im Hals. „Soll ich meine Schuhe ausziehen, damit die Trage nicht beschmutzt wird?!“ Er selbst empfindet die Frage als völlig legitim. Demütig meinte er im Interview danach: „Die Sanitäter sind gekommen, um uns zu helfen. Und nach mir wird wohl jemand anderes auch diese Trage nutzen wollen. Daher wollte ich es nicht beschmutzen!“. Mich jedoch beschämt sie. Beschämt mich für dieses gesellschaftliche Konstrukt, in welchem sich manche Menschen nicht akzeptiert fühlen, oft unbeholfen sind und sich für ihre eigene Situation zu entschuldigen versuchen.  Ein System, welches vieles mit „Schicksal“ entschuldigt, ohne viel zu hinterfragen. Ein System, dass in einer Schwarz-Weiß-Manier nur Verlierer und Gewinner generiert. Ein System,  dem auch die Menschen in Soma zum Opfer fielen. Ein System, das sehr viel auf der marktwirtschaftlichen Agenda fußt, immer mehr zu verdienen - auch auf Kosten von Menschen, die auf schlechtbezahlte Arbeit angewiesen sind. Auf Kosten derer, die sehr wenig über ihre Rechte wissen und denen immer wieder eingebläut wird, wie ersetzbar sie doch als „Arbeitskraft“ sind. Sie müssen funktionieren! Möglichst keinen Aufstand machen. Vieles hinnehmen und einfach darauf hoffen, dass das „Kader“ (Schicksal) es gut mit ihnen meint! 

Kommentare

 

 

 

Ich hätte in deinem Blog gerne gelesen, wohin man Geld an die Hinterbliebenen spenden kann? Das Unglück hat mich sehr bestürzt, ich hoffe alle spenden den Familien so viel sie können, damit diese Zeit haben sich mit  mit dem Schmerz auseinanderzusetzen und sich erst einmal nicht um Finanzielles kümmern müssen.

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