Vom Mafioso zum Missionar

07. Juni 2012

 

Ali Atlas, ehemaliger Mafiachef, ist heute überzeugter Christ. Er betreibt eine Teestube in Favoriten und versucht gezielt, muslimische Jugendliche vom Christentum zu überzeugen. Kein Drehbuchschreiber hätte seine Lebensgeschichte spannender schreiben können. Ob sie wahr ist? Urteilt selbst.

 

Vor 35 Jahr en hatte „Ali Baba “ 268 Leute, die für ihn arbeiteten. Arbeiten hieß für den 55-Jährigen damals: internationaler Waffen- und Drogenhandel. Stets trug der Ex-Unterweltboss drei Waffen am Körper, zwei Walter PPK hinter dem Rücken und eine Smith & Wesson unter den Achseln. Nie konnte er eine Nacht lang durchschlafen. Hielt er sich in öffentlichen Gebäuden auf, saß er stets mit dem Rücken zur Wand – um die Übersicht zu behalten für den Fall, dass ihn ein Feind aufsucht. Heute lädt Ali Atlas, wie der Sohn eines sunnitischen Türken und einer schiitischen Kurdin wirklich heißt, zum wöchentlichen Bibelstudium in seine Favoritener Teestube. Von ihr behauptet er: „Sie ist nicht mein Werk, sondern das von Gott.“ Atlas trägt Jogging-Outfit, trinkt eine Dose Uludag und spricht mit sanfter Stimme: „Mein Leben gehört einzig und allein Jesus.“ Sein Weg vom Mafioso zum Missionar war ein weiter. Doch von vorne: Schon als sechsjähriger Bub verkaufte der kleine Ali in seinem Grätzel Wasser und Zeitungen. Gemusst hat er nicht, schliesslich war die Familie nicht arm, doch es hat ihn auf die Straße gezogen. 1964 übersiedelte die Familie während der ersten Gastarbeiterwelle von der Türkei nach Deutschland. Sie landeten in einem kleinen Ort, wo jeder jeden kannte und die Menschen sich so sicher fühlten, dass sie ihre Wohnungstür nicht abschlossen.

Der falsche Weg

Trotz der friedlichen Dorfidylle verlief Ali Atlas Jugend eher wie die aus der Biografie eines typischen Rappers aus der Bronx: Aus Wasser und Zeitungen wurden schnell Schusswaffen zu seinem bevorzugten Handelsgut. Die lieferte er regelmässig nach Afghanistan, Syrien und in den Iran. Im Gegenzug bekam „Ali Baba“ Haschisch, das er in der Gegend vercheckte. Sein Revier breitete sich schnell auf etliche Landkreise aus. Auf dem Höhepunkt seiner kriminellen Karriere kontrollierte er über 100 Quadratkilometer. „Das war ein guter Handel“, meint der gebürtige Türke auch heute noch. Nach nicht einmal einem Jahr habe er bereits seine erste Million verdient. Ali Atlas war damals gerade einmal 17 Jahre alt.

 

Schuld an seinem Gangsterwerdegang waren weder die Gesellschaft noch wirtschaftliche Not. Nein, inspiriert haben ihn vor allem die Filme von Yilmaz Güney, quasi dem türkischen Al Pacino. „Der hat immer den Mafioso gespielt, den Einzelgänger. Die Gangs, die Unrecht hatten, hat er zersprengt. Den Armen hat er geholfen“, schwärmt Atlas. Doch auch im echten Leben war Yilmaz Güney ein harter Bursche, mit dem nicht zu spassen war: 1974 soll er einen türkischen Richter erschossen haben. Daraufhin landete er im Gefängnis, konnte aber in einer spektakulären Nacht-und-Nebel-Aktion nach Frankreich flüchten. Dort drehte der politisch engagierte Marxist den Film „Yol“ („Der Weg“). Für die Schauspielrollen castete er die Söhne türkischer Gastarbeiter, für die sich zu dieser Zeit noch niemand in der Gesellschaft interessierte. Die Regieanweisungen musste Güney aus dem Knast erteilen, dennoch holte der Film die „Goldene Palme“ in Cannes.

Wie sein großes Filmvorbild, versuchte auch Ali Atlas ein „gerechter“ Gangster zu sein: „Ich habe zwar sehr gut verdient, aber nie viel in der Tasche gehabt. Meine Leute habe ich jeden Monat einkaufen geschickt für die Familien, die arm dran waren.“ Harte Drogen und Prostitution waren in seinem Revier streng verboten. Als andere Dealer sich nicht daran hielten und weiterhin Heroin verkauften, hat er einmal in einer Nacht alle acht Abtrünnigen nacheinander aus dem Bett gerissen, in einen Bus gekarrt und in den Wald gefahren. Dort schoss er jedem von ihnen in die Kniescheiben und liess sie in der Wildnis liegen. „Beim Zurückfahren habe ich an der Telefonzelle angehalten, um die Ambulanz anzurufen. Ich habe nie zugelassen, dass einer stirbt“, erzählt der bekehrte Christ im gleichen stoischen Tonfall, wie andere von ihrem Arbeitstag berichten würden.

Der Wendepunkt

Doch 1980 war Schluss mit seinem Leben als „Ali Baba“: Die deutsche Spezialeinheit GSG9 stürmte mit Sturmgewehren bewaffnet seine Wohnung. Sie fanden über ein Kilogramm Haschisch und eine kleine Menge Kokain. Das Urteil des Richters: Sieben Jahre Haft und zwanzig Jahre Deutschland-Verbot. Der Verurteilte landete in Stammheim, Stuttgart, in einem Hochsicherheitsgefängnis. Während er seine Zelle im sechsten Stock hatte, saßen eine Etage über ihm Andreas Baader, Ulrike Meinhof und etliche weitere RAF-Terroristen, die Westdeutschland in den 70er Jahren mit Entführungen und Bombenanschlägen in Angst und Schrecken versetzten. Für Ali Atlas sollte die Zeit im Häfn ein entscheidender Wendepunkt in seinem Leben werden: Hier fand er seine Berufung zu Gott.

 

Angefangen hat alles mit einem Abreisskalender voll türkischer und deutscher Bibelverse, der an Atlas Zellenwand hing. Gebannt las er die Geschichten über Jesus, ließ sich zuerst das Neue, dann das Alte Testament schicken und verschlang sie wissbegierig. Als um 22 Uhr das Licht in den Zellen ausgemacht wurde, baute er sich einen Kerzendocht aus Margarine und las die Nacht hindurch. Und dann geschah es: „Eines Abends war da in meiner Zelle ein hell leuchtendes Licht. Ich bin kein Typ, der Angst hat, aber da wurde mir unheimlich, weil ich es nicht erklären konnte.“ Aus dem Lichtkegel tauchte plötzlich eine schemenhafte Figur auf, die zu ihm sprach: „Du gehörst mir.“ Atlas erwiderte: „Wenn du Jesus bist, dann beweise dich mir.“ Daraufhin durchdrang ihn ein Gefühl, wie eine Energieladung, von den Zehen bis zum Kopf. „Ich habe mich gefühlt, als könnte ich über Wolken laufen“, erinnert er sich: „An diesem Abend habe ich mich hingekniet und beschlossen, dass mein Leben von nun an Jesus gehört.“ „Ali Baba“ gehörte endgültig der Vergangenheit an. Ali Atlas, Gottes Werkzeug, war geboren.

Für Muslime, die sich vom Glauben abkehren, oder zum Christentum konvertieren, sieht die Scharia die Todesstrafe vor. Für den sunnitischen Vater war die Bekehrung seines Sohnes ein Schock, aber Ali Atlas hielt seinen Glauben trotzdem nie geheim, schnell erfuhr seine ganze Familie und Sippschaft davon und lernte die Entscheidung zu akzeptieren. In die Teestube im Zehnten ist mittlerweile eine junge Mädchengruppe eingetreten, die es sich an einem Ecktisch gemütlich macht und eine Shisha bestellt. Ali Atlas holt bei der Gelegenheit eine Münze, ein Glas und eine Tischdecke hervor. Nach ein paar Handbewegungen lässt der Hobby-Zauberer erraten, wo die Münze jetzt versteckt sei. Sie zeichnet sich klar unter der Decke am Glas ab – doch das Mädchen gegenüber am Tisch greift ins Leere, Ali Atlas hat sie getäuscht. „Hast du dich schon einmal so sicher gefühlt und trotzdem lagst du falsch?“, fragt er in die Runde. „So erging es mir früher, als ich an Jesus, dem Sohn Gottes, zweifelte.“

Die Neugeburt

In der Türkei, wohin der Geläuterte nach der Haftstrafe abgeschoben wurde, ist Atlas ziellos durch das Land gestreift um zu evangelisieren, also andere Menschen von seinem Glauben zu überzeugen. Eines Tages bestellte ein Imam, der vom Vorhaben eines fremden Missionars erfuhr, Ali Atlas zu sich nach Hause. Der Bürgermeister und alle anderen hohen Tiere der Ortschaft waren ebenfalls beim Imam versammelt. Dieser verkündete vor versammelter Mannschaft, dass die Bibel lediglich eine Fälschung sei. Ali Atlas, einziger Christ im Raum, holte daraufhin den Koran aus seiner Jackentasche und zitierte den 68. Vers im fünften Buch: „Wenn du die Thora und das Evangelium (Anm.: das Alte und Neue Testament) nicht aufrecht hältst und erfüllst, fußt du auf nichts“, heisst es dort sinngemäss. Er schaute dem Imam tief in die Augen. Atlas war zwar angriffslustig wie früher, doch nun griff er nicht mehr zur Walter, sondern benutzte seinen Intellekt als Waffe: „Entweder also lügt der Koran oder du. Wenn der Koran lügt, dann zerreisse ich die Seite und schmeisse sie aus dem Fenster.

Das Militär nahm ihn fest, die Vorwürfe lauteten: Mafiachef, PKK Sympathisant und christlicher Missionar – das passte überhaupt nicht zusammen, aber alles drei stimmte.

Aber wenn du lügst, dann schmeiße ich dich aus dem Fenster.“ Der Imam war erbost: Er zeigte den Fremden kurzerhand wegen christlicher Propaganda an. Das Militär nahm ihn fest, die Vorwürfe lauteten: Mafiachef, PKK Sympathisant und christlicher

Missionar – das passte überhaupt nicht zusammen, aber alles drei stimmte. Im türkischen Gefängnis wurde Ali Atlas daraufhin 14 Tage lang, nonstop, gefoltert: Gekochte Eier unter die Achseln, Stricknadeln durch Füsse und Hände, Misshandlungen mit Rasierklingen und dann Salz in die Wunden – das ganze Programm. Ein Vorgesetzter schloss gar sein bestes Stück an eine Stromleitung an. Noch heute zeugen die zahlreichen Wunden an seinen Gliedmassen von dieser Zeit: „Die haben mir solche Schmerzen zugefügt, dass ich irgendwann nichts mehr gespürt habe“, erzählt Atlas.

Auf die traumatisierenden Erfahrungen folgte die Flucht nach Bulgarien, wo er mehrere türkischsprachige Gemeinden gründete. 2006 landete der Christ schliesslich in Wien. Hier eröffnete er seine Teestube. Die ist jedoch weit mehr Sozialarbeit für benachteiligte Jugendliche als blosses Geschäft: Es gibt Jazz-Abende, Bibelstudien und Poker-Treffen. Ali Atlas Ehefrau lädt regelmässig Frauen aus der Nachbarschaft ein, die Probleme haben und bei ihr Rat suchen. Für Tee, Snacks und Shisha werden keine Preise verlangt – jeder Besucher spendet freiwillig, was er kann und möchte.

„Alis Teestube“ ist aber auch Mittel zum Zweck für seine angeblich „wahre“ Berufung: Die Missionierung unter Moslems. Der Kurde spart nicht mit provokanten Aussagen, political correctness ist ihm sichtlich fremd: „Es gibt nur einen wahren Gott. Es kann keine zwei Wahrheiten geben. Im Koran steht: ‚Wenn du einen Christen oder Juden tötest, kommst du in den Himmel‘ – kann Gott so etwas verlangen?“ Oder: „Europa wird islamisiert, wundere dich nicht, wenn in 30 Jahren alle europaÅNischen Frauen mit Schleier herumlaufen.“ Trotz der streng konservativen muslimischen Gemeinde besucht Ali Atlas regelmässig sunnitische und schiitische Vereine im Viertel und liest dort aus dem Koran – „Jesus kommt in den Versen fast fünfhundertmal vor, Mohammed nicht einmal fünfmal“, führt Atlas aus und bietet am Ende allen Interessierten die Bibel an. Vor Üergriffen erboster Moslems fürchtet sich der Missionar nicht, schliesslich sei ihm sein Ruf als ehemaliger Bandenchef bis nach Wien nachgeeilt: „Die Leute unternehmen nichts, weil sie Angst haben. Ich bin immer noch so schnell wie vor 30 Jahren.“

Ist Ali Atlas mit seinem sozialen Engagement und seiner Abkehr von Drogen und Gewalt ein Vorbild für Jugendliche oder ein ignoranter, religiöser Fanatiker? Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen. Respekt hat er jedenfalls vor jedem Menschen, ganz gleich, welcher Herkunft, Hautfarbe oder Religion. “Wenn du nicht Gottes Weg folgen willst, ist das deine freie Wahl”, meint der Teestubenbesitzer in Favoriten. Doch er fügt auch unmissverständlich hinzu: „Wenn du in die Hölle willst, dann kannst du gehen".

 

von Fabian Kretschmer und Michele Pauty (Fotos)

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Kommentare

 

...ist mir die Rechtschreibung nicht so wahnsinnig wichtig, aber "spassen", "gross", "liess" usw. tun mir beim Lesen weh! Ist der Autor ein Schweizer?

 

Finde den Artikel interessant, aber ein wenig zu unkritisch. Es geht ja immerhin um schwere Delikte.

 

hey! ja du hast vollkommen recht da haben sich ein paar ß-fehler eingeschlichen! ist leider beim übertrag dieser sonderzeichen passiert! der autor ist in diesem fall unschuldig! wir bessern das so schnell wie möglich aus! 

lg aus der online redaktion 

moni bratic

 
 

mich wuerde schon interessieren welcher andreas baader und welche ulrike meinhof 1980 in stammheim die etage ueber ali atlas belegt haben sollen. die beiden haben dieses jahr mit sicherheit nicht erlebt.

was ist dann vom rest des artikels noch wahr?

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